Warum der Germund Kandinzler wurde

Eine kleine Wahlanalyse anhand von Biographien über die Herren Stoiber und Schröder

Von Thomas HermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Hermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Aus, aus, das Spiel ist aus!" Nach diesem Ruf aus dem Holzradio war man 1954 endlich wieder wer, und fast wäre man 2002 nach 1974 und 1990 auch mal wieder wer geworden. Das Symbol des ersten großen Sieges nach der letzten großen Niederlage, das Wankdorf-Stadion, wurde aber vor kurzem in den schweizer Boden gesprengt, und Fritz Walter ist auch schon tot. So ändern sich die Zeiten, so fallen Sinnbilder. Letztens zog der FIFA-Tross nach Japan und Südkorea, und die Erben der Helden von Bern kämpften sich wacker ins Finale. Interessant waren die Ausgangssituationen vor und während des Endspieles, die Rezeptionssituationen dieses Endspieles für Kandidat Stoiber und Kanzler Schröder. Der Kanzler besah sich die Finalpaarung inmitten von Kaiser und Ministerpräsident und südkoreanischen Großkopferten in der Ehrenloge, der Ministerpräsident und Herausforderer stand auf irgendeiner Tribüne unter irgendwelchen Fans, bemühte sich, den Schlachtenbummlerschal betont lässig um die asketischen Schultern zu schwingen, und fuchtelte schüchtern mit zwei Papierfähnchen in ungewohntem Schwarz und Rot und Gold. Das Spielergebnis war klar und eindeutig, das Wahlergebnis war alles andere als das, der Spielverlauf war eher öd, der Wahlabend hingegen troff vor nervenzerfetzender Hochspannung.

Schon früh zeigten sich bei Gerhard Schröder und Edmund Stoiber Affinitäten zu Fußball und Fußballähnlichem. "In der Schule war Stoiber ein As in einer Art Mini-Fußball, die auch auf den Schulbänken gespielt werden konnte. Das Spiel ist auch unter dem Namen ,Zicken' bekannt." Mit Zehnerln und Lineal kickte der Schüler Stoiber beim ,Zicken', und weiter wird berichtet, dass er gelungene Aktionen "mit dem Schlachtruf ,Ruhm! Ruhm!'" abgeschlossen hat. Heute ruft der Fan "Sieg! Sieg!", aber damals war die Zeit, in der man Sachen mit "Sieg!" sagte, noch nicht so lange her. Gerhard Schröder spielte richtig und skandierte Anderes. In den bitteren Nachkriegsjahren (Sieg! Sieg!) wohnte der junge Gerhard im Örtchen Bexten in einer Notunterkunft. "Die Stelle, an dem diese Häuschen standen, gewann für Schröder später Bedeutung: hart am Rande eines Fußballplatzes. Hier nahm die Legende von Gerhard ,Acker' Schröder ihren Anfang." Der alte und neue Kanzler war also weniger ein Ballzauberer, eher könnte man ihn als Fußballarbeiter bezeichnen, und nicht umsonst ist er tendenziell ein Sozialdemokrat. So durchpflügte er grobfüßig die gegnerischen Strafräume und beschaffte indirekt den Platzwarten des Wirtschaftswunders Betätigung. "Es gibt auch Weggefährten, die sich an eine andere Erklärung für den Spitznamen ,Acker' erinnern können", und diese Erklärung ist um Einiges besser. Der kleine Gerd war ein kleiner Landwirtschaftsfan (wie Helmut Kohl, wie der Biograph vermerkt). Wenn ein Traktor vorüber fuhr, dann sah er diesem fasziniert nach, begeistert von der Kraft und der Größe der ruralen Gerätschaft. Traktoren machen zweitaktend ungefähr "Tacktacktack", oder so. Des Deutschen noch nicht vollständig mächtig habe der sehr junge Gerhard "den vorbeifahrenden Treckern immer ,Acker, Acker' nachgerufen, das Motorengeräusch lautmalerisch nachahmend". "Auch das ist eine schöne Geschichte, aber der Kanzler bevorzugt heute die Fußballer-Variante", verständlicherweise. Dem Fußball schreibt Schröder eine große Bedeutung für seine charakterliche und geistige Entwicklung zu. Als US-amerikanische Diplomaten noch mit ihm sprachen, hat er einem diesen Umstand so dargelegt: "Ich habe Fußball gespielt, wie ihre Neger rennen, aus Bedürfnis nach sozialer Anerkennung." Die politische Unkorrektheit dieser Aussage hat der politisch korrekte Autor übrigens politisch korrekt als politisch unkorrekt bezeichnet. Der Kanzler rackerte also wie ein Berserker im Sechzehner, als Vollblutfußballer, wohingegen der ehemalige Kandidat körperkontaktfrei Münzen schnippste und sich wie ein Fußballer fühlte. So gesehen musste Schröder auf ein Volk der dreimaligen Weltmeister mehr Eindruck machen als Stoiber, obwohl jener - das sei der Fairness halber angemerkt - schon auch ab und zu richtig spielte, doch nur in der zweiten Mannschaft, weil ihm das Studium anscheinend wichtiger war, und er lieber in München studierte als in Wolfratshausen zu trainieren.

"Für den sozialen Kontakt in Wolfratshausen sorgte wieder einmal der Fußball - in diesem Fall sogar für einen, der für Stoibers Leben bestimmend war", denn die Bankangestellte Karin Rudolf schaute sich ab und zu ein Spiel an, weil sie "ein Auge auf den großen Blonden mit dem Fußballschuh und dem breiten Lachen geworfen hatte". Bei Schröder war das ähnlich. "Er brachte es nicht übers Herz, die Bezirklassenfußballer vom TuS Talle im Stich zu lassen", unter anderem, weil in Talle seine Freundin Eva Schubach wohnte, die später des zukünftigen Kanzlers erste Frau wurde. Über die Frauengeschichten der beiden Herren wurde oft gesprochen. Dabei tat man ihnen aber jeweils umgekehrt unrecht. Der Bayer war wegen seiner unbedingten Treue zur Gattin vielen suspekt, vor allem den Männern. Dem Niedersachsen wurde Vielweiberei vorgeworfen, vor allem von den Frauen und dem Bayern. Was aber war vor der Ehe und den Ehen? In Stoibers Abiturzeitung stand folgendes: "Als blonder blauäugiger Recke Favorit bei allen nordgermanischen Sommerfrischlerinnen, die er durch kernig bayuwarische Sitten und Gebräuche betört." Er vertrieb sich die Zeit mit Schwimmen und Sonnen und streifte abends um die Wirtshäuser und Cafés, "um zu sehen, ob die Urlauber neue ,Hasen' mitgebracht hatten". Des ledigen Ede Leben sah wie das Drehbuch zu Filmen mit Peter Steiner aus, in deren Titel Wörter wie "Lederhose", "Dirndl" und "Jodeln" vorkommen. Stoiber hat zwar nur eine Ehefrau, hatte aber ungefähr ungezählte Liebschaften vor der Trauung. Schröder hat drei Exfrauen und eine Ehefrau, doch war und ist er allen treu, und davor war wahrscheinlich nicht viel los, wie eine recht konservative Tat von ganz früher verdeutlicht: "Weil seine Schwester Heiderose mit 15 schon einen festen Freund hat - viel zu früh, wie er findet -, legt er sie eines Tages mitten auf der Dorfstraße übers Knie und verhaut sie." Schröder war nämlich der Vaterersatz, da Fritz Schröder 1944 in Rumänien fiel, ohne seinen Sohn jemals zu sehen. Ein Photo des Gefreiten Fritz Schröder ist sehr irritierend. Schröders Vaters Gene scheinen extrem dominant zu sein, denn sein Sohn ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, und dieses Gesicht trägt auf dem Bild einen Stahlhelm mit Hakenkreuz. ",Das bin doch ich', sagt der Kanzler nicht ohne Rührung und schweigt eine ganze Weile." Mit diesem Bild ließen sich aber die vergifteten Beziehungen zu den USA wieder heilen. "Come on George, let´s play war", könnte Schröder das Bild Bush jr. zeigend zurufen, "you are Hitler and I´m a soldier of the Wehrmacht!", und alles wäre wieder O.K. Stoibers Vater war ein richtiger Nazi, zumindest soll er "auf die Nazis gesetzt" haben, und ging dafür folgerichtig in Gefangenschaft. Somit ergibt sich die nächste Parallele: Beide waren gezwungenermaßen Muttersöhnchen. Dass Kandidat und Kanzler zu allem Überfluss auch noch bettelarm waren, hat sehr anschaulich das zweite Fernsehduell gezeigt, in dem beide darüber stritten, wem es denn nun damals dreckiger ging. Warum Stoiber bei den beiden direkten Konfrontationen eher schlecht abgeschnitten hat, erklärt sein Biograph so: "Da ihn seine Lieblingsjournalisten wie Gerhard Fuchs, Siegmund Gottlieb oder Andreas Bönte im Bayerischen Fernsehen lieber fördern statt fordern, tut er sich mit zupackenderen auswärtigen Fernsehjournalisten ausgesprochen schwer." Selbst wenn sie nicht zupacken, wie bei den Duellen, geht er audiovisuell unter.

Die beiden Biographien beschäftigen sich neben den spannenden Privatangelegenheiten freilich auch mit der Politik. Doch politisch ist im Wahlkampf eher wenig los, und der letzte war ja geprägt von der Fixierung auf Kandidat und Kanzler, zugeschnitten auf Herausforderer und Herausgefordertem, personalisiert wie nie zuvor, ausgetragen im Boulevard. Deshalb seien nur kurz die politischen Äquivalenzen erläutert. "Stoiber soll seine Lehrer auch mit eher linken Sprüchen provoziert haben", und die Vertreter des Sozialistischen Hochschulbundes putschten gegen den kommenden Kanzler mit dem Kampfruf "Stoppt den rechten Schröder". Der eine ist also ein linker Rechter und der andere ein rechter Linker, was man auch wunderschön beidseitig missverständlich intonieren kann. Die politische Männerbeziehung findet dann durch Doris Köpf nach den ersten privaten Anbandelungsversuchen ihres Zukünftigen zu einem Höhepunkt: "In den Wochen danach reist Schröder häufiger als früher nach Bayern. Er entwickelte eine erstaunliche Nähe zu dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, die sich natürlich trefflich durch die gemeinsamen Interessen um das Wohlergehen der Automobilindustrie über die Parteigrenzen hinweg beschreiben lässt."

Beide spielten Fußball, beide hatten diverse Frauengeschichten, beide waren kriegsgeschädigte Knaben und arm, beide treffen sich politisch in der Mitte und beide stehen auf Autos. Da soll sich nun der Wähler entscheiden, kann es nicht, und es kommt zum Patt. Wenigstens aber war es unglaublich spannend. Deutschland verlor gegen Brasilien, woraufhin sich landauf und landab Autokorsi hupend durch die Straßen schlängelten. Schröder und Stoiber spielten unentschieden, es gab keinen Sieger, keinen Verlierer, weder Fisch noch Fleisch, es war nichts Halbes und nichts Ganzes. Keiner weiß, ob er sich freuen darf, am allerwenigsten der Wähler. In vier Jahren ist wieder Wahl und wieder WM, beides in Deutschland. Wie viele Biographien über Edmund Stoiber noch geschrieben werden ist ungewiss, über Gerhard Schröder wird es mehr geben. Deshalb sei auch dem alten und neuen Kanzler das letzte Wort gegeben: "Wir schaffen das."

Titelbild

Michael Stiller: Edmund Stoiber. Der Kandidat.
Econ Verlag, München 2002.
286 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3430187869
ISBN-13: 9783430187862

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Reinhard Urschel: Gerhard Schröder. Eine Biographie.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2002.
400 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-10: 3421055084

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