Lebenskampf

Hugo Claus schildert in seinem Triptychon "Der Schlafwandler" eine Vorhölle

Von Nora KuscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Kusche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Liebste Mama." So beginnt die erste der drei Geschichten, die Hugo Claus zu seinem Erzähltriptychon "Der Schlafwandler" vereinigt hat. Und so beginnt auch der als innerer Monolog konzipierte Abschiedsbrief Emilys an ihre Mutter. Nach und nach offenbaren sich Bruchstücke aus Emilys Leben: ihre lieblose Beziehung zur Mutter, ihre liebevolle Beziehung zu Anna, und schließlich der Grund für Emilys und Annas Aufenthalt im Luxushotel am Meer. Erst gegen Schluss aber realisiert man das ganze Ausmaß ihrer Liebes- und Lebenstragödie, einer Schicksalsfahrt, die - wie auch die Erzählung selbst - in einem schrecklichen Kampf endet.

Ähnlich rätselhaft und bedrohlich sind auch die folgenden beiden Erzählungen konzipiert: In der Titelgeschichte wird Luc Scholten von einem Fahrradfahrer verletzt, bevor er auf seine einstige Geliebte trifft. Er beginnt an einer seltsamen Legasthenie zu leiden und verrennt sich in einer traumhaft-konfusen Mixtur aus Missverständnissen, Tagesresten und Realitätspartikeln. Seine Jagd nach dem weiblichen Phantasma verläuft erfolglos - und Luc kehrt zu seiner Frau zurück, die ihn samt den Schwiegereltern in familiärer "Idylle" erwartet.

In "Die Versuchung" folgt die Erzählung den Gedanken einer uralten, blinden Nonne, die in ihrer Gemeinde und von klerikalen Würdenträgern auf geradezu bigotte Weise verehrt wird. Schwester Mechthild hingegen betrachtet in fast wonnevoller Einkehr ihren körperlichen Verfall als Annäherung an ihren geliebten Herrn Jesus, ihren Bräutigam.

Für seine raffinierte Erzählkunst wird Hugo Claus seit einigen Jahren als künftiger Nobelpreisträger gehandelt. Der in Brügge geborene, meist in Frankreich lebende Flame genießt in ganz Europa großes Ansehen als Erzähler, Dramatiker und Lyriker. Er hält den Flamen einen bösen Spiegel vor, und eindrucksvoll, fast sarkastisch, schildert der ehemalige, von Nonnen erzogene Internatsschüler auch die Welt einer verbitterten Nonne, eine Welt, die Schwester Mechthild nurmehr durch ihren Gehör- und Geruchssinn wahrnimmt.

Drei hoffnungslos gescheiterte Existenzen führt uns der 73-jährige Autor in den drei Erzählungen seines neuen Buches vor. Jede Geschichte besteht aus fragmentarischen Situationsanalysen, aus perspektivisch verkürzten Wahrnehmungsschüben der Protagonisten. Gedanken, Erinnerungen, Träume und reales Erleben der Außenwelt gehen fast übergangslos ineinander über. Für den Leser bedeutet dies die Freiheit, sich die dargestellte Welt ein Stück weit selbst erschließen zu können - die Unbestimmtheit lässt der eigenen Phantasie viel Raum.

Jede Lebenslage der Protagonisten ist schlichtweg desillusionierend, die trostlosen Umstände ihrer Existenz bilden quasi ihren Lebensstandard. Unbeschwertes Lesevergnügen zur Steigerung des eigenen Wohlbefindens darf man hier gar nicht erst erwarten, zumal Hugo Claus auch weder Lösungen anbietet noch Auflösungen mitliefert.

Titelbild

Hugo Claus: Der Schlafwandler. Drei Geschichten.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Waltraud Hüsmert.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2002.
190 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 360893247X

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