Chronik der Kopfschmerzen
Zu Ben Faccinis "Luft Anhalten"
Von Sanja Zec
Wenn Jean-Pio zwischen seinen Brüdern im Auto sitzt, dann blickt er auf dahinjagende Straßen hinaus und hat Bonbons im Mund, um scharfe Kurven abzumildern. Er liest Autokennzeichen, entziffert Aufkleber auf anderen Wagen, zählt Nummernschilder und Kilometerangaben zusammen und sucht auf Reklametafeln nach neuen Wörtern. Der Vater hat seinen Platz am Steuer, rast über Autobahnen und Landstraßen hinweg, die Mutter sitzt daneben und ist genervt. Die selbstgemachten Sandwiches schmecken manchmal etwas fad, denn an einer Kühlbox wurde bisher gespart.
Was manche Familien alljährlich nur zur Urlaubszeit auf sich nehmen, ist für den achtjährigen Jean-Pio, seine Brüder Duccio und Giulio, Mutter Ama und Vater Pado alltäglich. Denn der Vater, ein anerkannter Anatom und Histopathologe, reist quer durch Europa von Konferenz zu Konferenz, um über die neuesten Erkenntnisse auf seinem Gebiet zu referieren. Seine Familie hat er immer dabei. Nie bleiben sie länger als ein paar Tage an einem Ort, ihr ganzes Hab und Gut ist gerade so groß, dass es in einen Kofferraum passt. Jean-Pio und seine beiden Brüder kennen weder ein Zuhause, noch haben sie je eine Schule besucht, dennoch sprechen sie Französisch, Englisch und Italienisch und sind über die Forschungen ihres Vaters und deren Inhalte bestens informiert.
Hinter dieser ungewöhnlichen, doch heilen Fassade steht jedoch eine Chronik der Kopfschmerzen. Es sind nämlich die Hilflosigkeiten eines unglücklichen Lebens, auf die Ben Faccini in seinem ersten Roman "Luft Anhalten" hindeuten will. Hilflosigkeiten, die letztlich auch durch körperliche Gebrechen zum Ausdruck kommen können. Selten, dass Mutter Ama nachts ein Auge zutut, um sich von abgaserfüllten Verkehrsstaus, dem Geräusch zufallender Autotüren und dem Geraschel von Stadtplänen zu erholen. Und auch Jean-Pio wird durch quälende Gedanken an Tod und Krankheit, denen durch die Furcht erregenden Erkenntnisse seines Vaters Nahrung gegeben werden, regelmäßig von Kopfschmerzen heimgesucht.
Von diesen histopathologischen Erkenntnissen erfährt auch der Leser allerhand und so weiß er nach der Lektüre genau, dass die meisten Krankheitserreger an der Kette von Klospülungen hängen und Klimaanlagen Bakterien besonders gut und schnell verbreiten. Er erfährt auch, wie Krebsgeschwüre von Kettenrauchern aussehen oder der Kot eines Darmkranken.
Faccini macht jedoch auch das Schweigen zu einem großen Thema in seinem Debüt. Die Zeilen quellen über von nicht Ausgesprochenem, von aufgestauten Aggressionen und Gedanken und auch von Liebe findet sich kaum eine Spur.
Doch gerade, als sich der Leser an diese Situation gewöhnt, ändert sich alles schlagartig. Plötzlich stellt sich Ama gegen Pados Autofahrten und ist nicht länger gewillt, das Familienleben auf den Straßen Europas zu führen. Sie möchte endlich sesshaft werden und ihren Söhnen das geben, was sie bisher nicht hatten: eine Kindheit. Folglich ziehen sie in das verlassene Haus der Großmutter nach Frankreich und versuchen dort von vorne anzufangen - bloß die Kopfschmerzen bleiben. Pado ist ohne sein Auto unglücklich, Jean-Pio entdeckt ein schreckliches Familiengeheimnis und Duccio wird von einem Au-Pair-Mädchen vergewaltigt.
Faccini versteht es dabei, eine ansprechende und realistische Atmosphäre zu schaffen, die er gekonnt in Worte zu kleiden vermag, auch wenn seine Sprache und sein Stil manchmal zu einfach sind. So ist der Bruch, den er nach der Hälfte des Buches vollzieht, zu groß. Es verstört, sämtliche Protagonisten plötzlich völlig anderen Situationen ausgesetzt und sich mit Geschehnissen konfrontiert zu sehen, die sich im ersten Teil nicht einmal abzuzeichnen wagen, während sie im zweiten von immenser Bedeutung zu sein scheinen. Vieles lässt erkennen, dass sich der 36-jährige Autor, der selbst in Italien, Frankreich und England aufgewachsen ist, hier zum ersten Mal an einem Roman versucht. Doch dem Mangel an schriftstellerischer Reife sollte man sich nicht zum Grund machen, über den Wahl-Londoner hinweg zu sehen. Was nicht ist, kann ja noch werden. In Faccinis Fall deuten die Zeichen darauf hin.