"Dieses unter der Oberfläche brodelnde Gewaltleben …"
Inka Bachs Rheinsberger Tagebuch "Wir kennen die Fremde nicht" erzählt von Jugendgewalt und Fremdenhass in den Neuen Bundesländern
Von Jörg Sader
Unter 'Altlasten DDR' verbucht Inka Bach das erschreckende Maß an Jugendgewalt, Rechtsextremismus und Fremdenhass in Brandenburg. Nicht die neuen, westlichen Verhältnisse, nicht Arbeitslosigkeit und wirtschaftlicher Stillstand seien die Ursachen, vielmehr, und das ist ihre zugespitzte These, die fatale Kontinuität, mit der die ehemalige DDR untergründig, besser: in den Köpfen bis heute fortwirke. Schon hier sei "die Ablehnung von Ausländern [...] weit verbreitet" gewesen. "Das Unter- und Herrenmenschenvokabular ist hier virulenter geblieben als im Westen. Aus vielen Gründen: Fortbestehen der autoritären Strukturen, eine luftdicht abgeschlossene Gesellschaft. Und sicher hat auch das Tabu Nationalsozialismus dazu beigetragen. [...] Vom DDR-Staat unterdrückte, nicht durchlebte, nicht erarbeitete Geschichte. Verordneter, verlogener Antifaschismus. Jetzt ist der Deckel weg, und der Gestank kommt hoch, durch Großeltern, auch durch Eltern an die Jugendlichen weitergereichte Vorurteile und Naziideologien."
Der Polemik werden sich die Ostalgiker, die Verteidiger der einstigen Nischengesellschaft, ihrer Mitmenschlichkeit und Nestwärme, nicht anschließen. Allerdings liegt die Stärke des "Rheinsberger Tagebuchs", das die 1956 in Ost-Berlin geborene und 1972 in den Westteil der Stadt geflohene Schriftstellerin als amtierende Stadtschreiberin von Rheinsberg 1998 führte, weniger in den (zuweilen etwas kurz greifenden) Erklärungsangeboten, als in der Fülle des zusammengetragenen Materials, mit dem Inka Bach die Phänomene Jugendgewalt und Fremdenhass im Brandenburgischen stellen will. Seit der Gründung der Initiative "Courage gegen Fremdenhass" liest die 'gelernte' DDR-Bürgerin zu diesem Thema auch in Schulen: wird dabei in Westberliner Schulklassen rege diskutiert, verschanzen sich die Schüler im Osten der Stadt hinter einer Mauer des Schweigens.
Inka Bach möchte zwar konkret über das schreiben, "was ich hier höre und sehe" - was aber sieht sie? "Als hätte ich mir nie vorgenommen, nachts nicht allein durch die Straßen zugehen, spaziere ich, es ist bald Mitternacht, über den Triangelpatz, auf dem Peter Böthig zusammengeschlagen wurde, und merke erst, was ich tue, als mir aus dem Dunkel ein Rülpsen entgegen knallt. Da, der Schreck. Eine Autotür, die plötzlich heftig neben mir auf springt. Und auch auf den Bänken vor dem Schloß, keine dreißig Meter von der Stadtschrei berwohnung entfernt, dort sitzen sie, sieben, acht Jugendliche ..." Der da - wenige Tage nach Inka Bachs Antrittsvorlesung zum Thema Jugendgewalt - zusammengeschlagen wurde, ist der Leiter der Rheinsberger Tucholsky-Ge denkstätte (fast irritiert jetzt die Erinnerung an das idyllische "Bilderbuch für Verliebte" von 1912!); in einem Schnellverfahren erhielt der Schläger acht Wochen Jugendarrest, die Motive der Tat blieben vor Gericht freilich unerwähnt.
Aus Beobachtungen und Gesprächen, aus Meldungen der Presse, des Fernsehens webt das Tagebuch - literarisch doch der ideale Ort für Sammler - diese schwer zu fassende, ja unheimlich anmutende Atmosphäre latenter Aggressivität. Zum Glück war die Autorin nicht unmittelbare Augenzeugin der Attacken auf Passanten, die den Hitlergruß verweigerten, der Belästigungen mit "Ausweis her, SS!", der Überfälle auf junge Türken, auf Campingplätze, auf Schulklassen: "Kofferradios wurden zertrampelt und Rucksäcke in den See geworfen. Dann wollten die Skins ein 'Judenfeuer' veranstalten. 'Wenn schon keine Juden da sind, dann verbrennen wir wenigstens eure Klamotten', sollen sie gerufen haben. Die Decken und Kleider brannten, und dann haben die Skins zugeschlagen ..."
Gewalt könne sich, das ist eine der Botschaften, überall (nur in den Neuen Ländern?) ereignen, vor allem jeden treffen: Frauen, Ausländer, Behinderte, Menschen, die an Krücken ge hen. Immer hin ereigneten sich 1997 50 Prozent aller rechtsextremistisch motivierten Straftaten in den Neuen Ländern (wo lediglich 17 Prozent aller Deutschen leben). Doch auch die Erscheinungsformen der Gewaltdelikte haben sich nach der Wende verändert: waren früher spitze oder scharfe Mordinstrumente, gar Schusswaffen im Einsatz, so sind es heute eher stumpfe Schlaginstrumente, Baseballschläger und Springerstiefel eben. Und niemand, der den Opfern zu Hilfe kommt, weder Taxifahrer noch Imbissbudenbesitzer, selbst die Polizei hält sich, schreibt Inka Bach, bedeckt; sie nimmt häufig nur die Personalien auf und tut im übrigen die Delikte als Dumme-Jungen-Streiche ab.
Der Text ist, kein Zweifel, auch eine Abrechnung mit dem Arbeiter- und Bauernstaat; er als Übel aller Übel ist der wahre Gegner - und noch immer ein Land, das offenbar nur die Oberfläche geändert hat: intakt die alten Strukturen, die alten Verhaltensweisen, mangelnde Zivilcourage, Desolidarisierung und immer wieder Angst: "Es stimmt, die DDR hatte etwas von Stall, auch von Gestank, nichts von Wärme. Sie war nie so harmlos, wie manche sie jetzt sehen wollen ..." An anderer Stelle: "Denke mir die DDR weg. Fange bei Kriegs ende an. Sehe das Schloß, den See, denke Frieden" - ein flüchtiges, von den Ost-Erfahrungen der Autorin ständig durchkreuztes Wunschbild. Sie übersieht ja keineswegs den Reiz der Märkischen Landschaft, die "Pracht des geputzten, aufgeräumten Rheinsberg" mit seiner Keramikmanufaktur seit 1674, dem von Knobelsdorff umgebauten Schloss, aber auch den Hinweistafeln auf die Todesmärsche zum KZ Sachsenhausen - und natürlich den 600.000 Tou ri sten im Jahr (bei gerade mal 5.000 Einwohnern).
Den Reiz 'echter' Tagebücher löst nicht zuletzt das Disparate und Vorläufige ihrer Notate aus, mögen sie auch mit festem Blick auf eine spätere Veröffentlichung geschrieben worden sein. Auch Inka Bach hat der "sou plesse du genre" nachgegeben und den dokumentarischen Passagen viel Fiktionales und Persönliches hinzugefügt - Lektüren, Begegnungen, der Alltag einer alleinerziehen den Mutter, die Liebesbeziehung zu einem Burschen, der unter dem beziehungsvollen Namen 'Drachentöter' auftritt.
Andererseits bleibt dem Leser der Blick in die Werk statt verwehrt (Was schreibt eine amtierende Stadtschreiberin außer polemischen Briefen an 'ihre' Stadt?). Knapp erwähnt wird ein gerade entstehender Text (ist es der Roman "Glückskind", aus dem die Autorin jetzt öffentlich liest?). Gleichwohl hält der Leser mit dem "Rheinsberger Tagebuch" ein Stück sehr lesbarer Dokumentationsliteratur in den Händen: so lange es Ost und West gibt, zwei Teile eines Deutschland, das seine wirkliche Vereinigung noch vollziehen muss, bleiben die zentralen Themen dieses Buches unvermindert aktuell.