Selige Wiederholung
Elf Aufsätze zum Werk Arno Schmidts
Von Jan Süselbeck
Irgendwo in Westfalen, am Rand des Teutoburger Walds, liegt eine graue Stadt, in der es so gut wie immer regnet: Bielefeld. Die Menschen, die dort ihr trauriges Leben fristen müssen, suchen Trost im Alkohol. Wenn man vom Bielefelder Studentenwohnheim zu einer alten Mühle im Wald joggt, um den Kater zu vertreiben, trifft man auf Grüppchen im Kreis stehender Omas, die im Akkord Korn trinken.
Die Bielefelder Uni besteht aus einem hohen grauen Betongebäude, vor dessen Anblick ausländische Studenten, die es durch Verkettungen unglücklicher Umstände hierher verschlagen hat, erschaudern. Was kann einen denkenden Menschen überhaupt dazu bewegen, sich auch nur eine Sekunde länger als für die Haltezeit des ICE in dieser gesichtslosen 'Metropole' des Ungeists und des Stumpfsinns aufzuhalten? Die Antwort lautet nach wie vor: Jörg Drews.
Nun ist zum ersten mal in der Geschichte des "Bargfelder Boten" eine Sonderlieferung erschienen, von der ihr sagenumwobener Gründervater und Herausgeber keine Kenntnis hatte. Der Oxforder Germanist Robert Weninger hat anlässlich von Drews' 65. Geburtstag einen Band herausgegeben, in dem elf Aufsätze einiger der international führenden Schmidt-Forscher aus Deutschland, Österreich, Frankreich, den Vereinigten Staaten und Großbritannien versammelt sind - getreu der Maxime, die Drews im Vorwort zu einem seiner letzten Sammelbände prägte: Es gebe Unsinnigeres, "als über Literatur nachzudenken, und die Versenkung in alle möglichen Aspekte von Werk und Leben Arno Schmidts ist schließlich ein nicht endendes Vergnügen, sprich: selige Anspannung, nicht zuletzt weil dieser Autor so turmhoch über anderen Autoren steht, die gerade eben (und wir dürfen mit einer gewissen Häme Zeugen sein) aus dem modischen (Schul-) Kanon kippen".
Allerdings gibt es bei aller Begeisterung auch viele unbeantwortete kritische Fragen an diesen merkwürdigen Schriftsteller. Und noch viel mehr Fragen stellen sich an eine Forschung, die sich mit ihm so euphorisch - und eben in vielerlei Hinsicht nicht immer kritisch genug - beschäftigt.
Der erste Beiträger im neuen Weninger-Sammelband, Bernd Rauschenbach von der Arno-Schmidt-Stiftung, Bargfeld, schreibt derzeit an einer mit Spannung erwarteten Schmidt-Biographie. Zwischenzeitlich hat er sich auf den Weg nach New York gemacht, um Eve Winer, der Tochter der 1977 in den USA verstorbenen Schwester Arno Schmidts, Lucy Kiesler, Informationen über die weitgehend unbekannte Geschichte Rudy Kieslers zu entlocken: Schmidts jüdischem Schwager. Kiesler war mit Schmidts Schwester 1933 vor den Nazis aus dem stramm nationalsozialistischen niederschlesischen Lauban nach Prag geflüchtet und von dort nach dem Einmarsch der Wehrmacht im Sommer 1939 über Cuxhafen in die USA emigriert.
Arno Schmidt selbst hat über die Tatsache, dass die Judenverfolgung in seiner Familie eine derartige Rolle spielte, auffälligerweise nie viel Aufhebens gemacht. Allerdings behauptete er, ein Studium, das er nachweislich nie aufgenommen hatte, habe er in den dreißiger Jahren abbrechen müssen, weil seine Schwester mit einem Juden verheiratet gewesen sei. Schon aufgrund solcher Ungereimtheiten ist es begrüßenswert, dass Rauschenbach jetzt beginnt, mehr Licht in diese Zusammenhänge zu bringen. Inwieweit nun aber die These seines Beitrags, die jüdischen Figuren in Schmidts Geschichten "Zu ähnlich" (1955) und "Caliban über Setebos" (1963) seien Rudy Kiesler nachempfunden, die Schmidt-Forschung wirklich weiterbringt, ist freilich eine andere Frage.
Die Annahme ist so naheliegend wie banal, und sie bietet keine befriedigende Antwort auf die Frage, warum jüdische Figuren in Schmidts Werk mit so stereotypen Rollen bedacht werden. Die auffällige Ambivalenz in der Darstellung dürfte wohl nicht nur damit zusammenhängen, dass Schmidt seinen Schwager eigenen Angaben nach einmal habe "verprügeln müssen".
Rauschenbachs biographische Rekonstruktion der Geschichte Kieslers ist trotzdem ein guter Einstieg für den Band, 'spiegelt' er doch nicht zuletzt die Tatsache, wie wenig man immer noch über die Biographie Schmidts weiß. Das, was dieser Autor in seinem Büchern über sein eigenes Leben behauptet, sollte man jedenfalls besser nicht ohne weiteres übernehmen.
Weningers Band versammelt ein gelungenes Potpourri von Texten verschiedenster Charaktere, die sich mitunter seit vielen Jahren in der Schmidt-Philologie tummeln. Die hermeneutischen Ansätze der einzelnen Beiträger könnten unterschiedlicher nicht sein. Dieses Forschungs-Panorama auf knapp zweihundert Seiten mustgergültig ausgebreitet zu haben, ist ein Hauptverdienst des Buchs.
Hier nur einige Beispiele: Karl-Gutzkow-Herausgeber Kurt Jauslin philosophiert wie immer auf hohem Niveau und beschäftigt sich diesmal mit dem ästhetischen Topos der Oberfläche bei Schmidt. Wolfgang Martynkewicz antwortet etwas verklausuliert auf eine Kritik, die Jan Philipp Reemtsma in einem seiner letzten Beiträge an Martynkewicz' Theorie der "Selbstinszenierung" Schmidts vorgetragen hat. Sabine Kyora sinniert über den Zusammenhang von sexueller Lust und Lesen bei Schmidt, und Karl May-Spezialist Rudi Schweikert wälzt anhand von Schmidts früher Erzählung "Enthymesis oder W.I.E.H." (1946) alte Wüstenkarten ...: So wechseln sich die Themen und die Interessensgebiete der Beiträger hübsch heterogen ab. Sie unterstützen das Gelingen der Komposition zusätzlich dadurch, dass sie allesamt in disziplinierter Kürze gehalten sind.
Doris Plöschbergers Beitrag beschäftigt sich mit der Rolle des Motivs des "Hörers im lauschenden Leserkreis" in Arno Schmidts frühen Texten, vor allem in den so genannten "Stürenburg-Geschichten". Plöschberger veranschaulicht, dass die poetologische Bedeutung dieser von Schmidt mimetisch aufgegriffenen "Ursituation des Erzählens schlechthin" tatsächlich eher darin liegt, aus der mündlichen Situation das ästhetische Potential der Schrift für seine Texte weiter zu entwickeln: "Gerade ihre oftmals konstatierte Nähe zu Formen mündlicher Äußerungen enttarnt Schmidts Texte als konzeptionell schriftliche Mimesis mündlicher Rede und verweist auf die Schrift als ihre unabdingbare Realisations- und Tradierungsform." Plöschberger berichtigt mithin gewisse Behauptungen Schmidts, wie er sie in seinen "Berechnungen" und anderswo immer wieder als poetologische Maximen vollmundig präsentierte: Er schaffe "Abbildungen von Gehirnvorgängen" oder handele als exakter Chronist und Archivar seiner Zeit. Vielmehr sei Schmidt als "Bewusstseinsmusiker" einzuschätzen, der das mündliche Erzählen "als personalisiertes und sinnenhaftes Erleben eines individualisierten Bewusstseins unserer Anschauung" verschriftliche, erläutert Plöschberger in dem ihr eigenen, manchmal etwas überfrachtet wirkenden akademischen Stil. Ihr Beitrag kann aber in gewisser Weise als (zufällige?) Ergänzung zu Maike Bartls "Berechnungen"-Kritik im aktuellen "Zettelkasten 21", Wiesenbach 2003, gelesen werden, deren "Juvenilia"-Studie (2001) Plöschberger auch lobend erwähnt.
Wenn sich jedoch Timm Menke mit der Geschichtsphilosophie in Arno Schmidts "Kaff auch Mare Crisium" (1960) auseinandersetzt, um zu zeigen, dass Schmidts "kosmisches Denken" dem gnostischen bzw. Nietzsche'schen Theorem einer "Ewigen Wiederkehr des Gleichen" folge, so betet er damit eine Erkenntnis nach, die in der Forschung längst zur bloßen Phrase erstarrt ist. Tasächlich folgt Menkes Beitrag selbst der philologischen 'Wiederkehr des Immergleichen', wenn er nun Schmidts pessimistische Kosmogonie zum x-ten Mal an "Kaff" exemplifizieren zu müssen glaubt.
"Nichts Niemand Nirgends Nie" heißt es in "Kaff", und diese nihilistische Grundformel ließe sich auch auf den vollkommen überflüssigen Vorschlag Menkes anwenden, die Inspiration für das Leitmotiv des ersten zweispaltigen Romans Schmidts in dem Motto zu Nietzsches "Fröhlicher Wissenschaft" (1887) zu suchen. Längst haben sich eindimensionale intertextuelle Quellenverweise in der Schmidt-Philologie in die Sackgasse der Absurdität manövriert. Erst recht aber dann, wenn man zu unzähligen bereits vorliegenden Vorschlägen auch noch einen vollkommen unplausiblen hinzufügt.
Menke lässt sich stattdessen die Möglichkeit entgehen, Schmidts existenzialistisch angehauchte Leviathans-Kosmogonie einmal gegen den Strich zu lesen und herauszuarbeiten, wie der Autor in "Kaff" beginnt, weniger Nietzsches Philosophie zu propagieren, als den in jenen Jahren modischen Existenzialismus unseliger Heidegger'scher Provenienz zu ironisieren. Spätestens mit "Kaff" verabschiedet sich Schmidt phasenweise von den besserwisserischen Erzählerposen seiner Protagonisten und beginnt - wenn auch ungebrochen pessimistisch - polyphoner und selbstironischer zu schreiben.
Doch damit wäre die vorliegende Rezension bereits selbst in den Diskurs - "nicht enden wollendes Vergnügen, sprich: selige Anspannung" - eingetreten, die die Debattierung Schmidt'scher Literatur bedeuten kann, egal, ob man an ihr als bloßer 'Leser' oder als 'Literaturwissenschaftler' teilnimmt. Diese Lager strikt zu trennen, ist im Blick auf die Sekundärliteratur zu Schmidt ohnehin unmöglich. Die eigentümliche Mixtur von Fan-Begeisterung und Wissenschaft, die hier seit drei Jahrzehnten regiert, dürfte in der Rezeption der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur einzigartig sein. In seliger Wiederholung spinnt der neue Band diese Geschichte fort.
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