Hotelpension mit ethischem Firmenschild
Andreas Schwab entzaubert den Berg der Wahrheit
Von Rolf Löchel
Im Laufe der Geschichte dachten sich unzufriedene Menschen nicht nur immer wieder verschiedene Utopien aus, gelegentlich versuchten sie auch diese zu leben. Damit sind nicht etwa die groß angelegten kommunistischen Experimente des vergangenen Jahrhunderts gemeint, deren Theoretiker und Führer sich vehement dagegen verwahrten, einer Utopie anzuhängen, sondern kleine Gruppen und Zusammenschlüsse, wie etwa die Münsteraner Wiedertäufer des 16. Jahrhunderts, die Bewohner der von Robert Owen 1825 in Amerika gegründete Siedlung "New Harmonie" oder die Anarchisten, Hippies und Freaks, die im Gefolge der 68er Revolte bei Kopenhagen den "Freistaat Christiania" ausriefen.
Eine derartig gelebte Utopie hat Andreas Schwab nun genauer unter die Lupe genommen: den Monte Verità, einen kleinen Hügel oberhalb des Örtchens Ascona, den Ida Hofmann und Henri Oedenkoven 1900 als Standort eines vegetarischen Sanatoriums und utopischen Experimentes der Lebensreform auserkoren. Schwabs Untersuchung konzentriert sich auf die Jahre 1900 bis 1920, dem Jahr, in dem Hofmann und Oedenkoven das Sanatorium verkauften und nach Übersee auswanderten. Inhaltlich richtet der Autor, der nicht nur Geschichts- und Politikwissenschaften sondern auch Volkswirtschaft studiert hat, seine Aufmerksamkeit nicht zuletzt auf die ökonomische Seite des Unternehmens und vergleicht die "realisierten Verhältnisse" mit den Ansprüchen des Unternehmens, das von dem Gründerpaar programmatisch als "Schule für höheres Leben" (Ida Hofmann) verkündet worden war. Ökonomische Basis des utopischen Versuchs war zweifellos das Sanatorium und somit der Tourismus. Dem trägt der Autor Rechnung, indem er das Sanatorium - wohl als erster - "in seiner konkreten Ausgestaltung" und zwar "von der Betriebsstruktur über die Kur bis hin zu den Gästen" rekonstruiert und selbst Details wie das Gästeaufkommen und deren saisonalen Verteilung, die Herkunft und Aufenthaltsdauer sowie der Geschlechterzusammensetzung und schließlich die sozialen Verhältnisse, aus denen die Gäste stammen, beleuchtet. So gelangt er nicht nur zu dem wenig überraschenden, aber von anderen Autoren kaum bedachten Ergebnis, dass die prominenten Gäste wie etwa Hermann Hesse "rein numerisch" nur eine "kleine Minderheit" waren, deren Rolle kaum so groß war, wie sie etwa von Martin Green dargestellt werde.
Darüber hinaus zeigt Schwab auf, dass die "Ansprüche", die Hofmann und Oedenkoven in ihren Schriften erhoben, in der Praxis von ihnen selbst "recht grosszügig interpretiert" wurden, so dass ein "kommerzielles Sanatorium" entstand, dessen "betriebliche Ausgestaltung" trotz der "weitergehende[n] Ambitionen", zu denen auch eine "vegetabilische Kur" gehörte, "in ein kapitalistisches Umfeld eingebunden" war, das dem Experiment den Stempel aufdrückte. Die von Hofmann und Oedenkoven propagierten und durchaus ernst gemeinten "Erlösungsprogramme", die Schwab eher noch als "Erlösungsfantasien mit literarischen Qualitäten" bezeichnet sehen möchte, brachen sich an der ökonomischen Notwendigkeit, welche die Aufrechterhaltung des Betriebes verlangte und die Betreiber bei Strafe des Untergangs bzw. des Bankrotts zwang, das Sanatorium nach "unternehmerischen Kriterien" zu führen, was sie schließlich - anders als zahlreiche konkurrierende utopische Unternehmungen - immerhin 20 Jahre mit Erfolg taten, auch wenn die "Ausgestaltung des Betriebs" mit den ursprünglichen lebensreformerischen Grundsätzen Hofmanns und Oedenkovens in heftigen Widerstreit gerieten.
Angesichts dieser Ergebnisse wird die ungebrochene Faszination, die der Monte Verità auf Bohemiens, Aussteiger und Utopiker bis heute ausübt erklärungsbedürftig. Nur ganz wenige Propagandisten der Revolte sprachen ihm im Laufe der Zeit jedes revolutionäre oder auch bloß umstürzlerische Flair ab. Zu diesen wenigen gehört allerdings kein geringerer als Erich Mühsam, selbst ein prominenter Monte Verità-Bewohner, der es dort immerhin länger als nur einige Wochen aushielt. Schon 1905 polemisierte er gegen die "Hotelpension mit ethischem Firmenschild", die "für den sozialen Beobachter kein grosses Interesse mehr" biete. Es sei eben "ein Sanatorium wie andere auch, nur eben ein vegetarisches", mäkelte der passionierte Karnivore.
Was nun das Faszinosum Monte Verità betriff, so ist es Schwab zufolge auf die "theatralische Stellvertreterfunktion" des Berges der Wahrheit zurückzuführen, die dieser in der Folgezeit "im Verbund mit anderen Aufbruchsbewegungen" habe wahrnehmen können. Die gegenwärtige "Hausse" des "Themas" liege in der Modernität der lebensreformerischen Experimente. Heute, da "individualistische Selbstverwirklichung" in Beruf und Freizeit für viele Menschen "Hand in Hand" gingen, biete der Monte Verità "faszinierendes historisches Anschauungsmaterial". Seine "grosse Anziehungskraft" lebe daher nicht so sehr von seiner "äusseren Realität", als vielmehr von seinem "ideellen Gehalt: den "bemerkenswerten utopischen Ideen", und deren "innovatorischen Potenzialen". Das ist nicht unplausibel. Fast schon satirisch nimmt es sich hingegen aus, wenn Schwab zur weiteren Begründung seiner These der "theatralische Stellvertreterfunktion" die "Topographie" des "frei stehenden Hügels" heranzieht, die es nahe lege, den Monte Verità als "Bühne" zu begreifen, auf dem in "Gesamtkunstwerk" dargeboten werde. Hierzu hätten auch die "weiten Reformgewänder" beigetragen, in denen die "Naturmenschen" wie "verkleidet" gewirkt hätten. Kurz: der Betrachter komme leicht zu dem Schluss "er sässe in einem Theaterstück", wobei den "verschiedenen Rollen", welche die "merkwürdigen Sonderlinge" spielten, "identifikatorisches Potenzial" innewohnte.
In den letzten Abschnitten seines Buches widmet sich Schwab der Rezeptionsgeschichte, der er vorwirft den Monte Verità durch "Entörtlichung" und "Entzeitlichung" "kontinuierlich sakralisiert" zu haben. So sei er schließlich "zu einem Symbol alternativer Lebensgestimmtheit mutiert". Bei Ulrich Linses Aufsatz "Der Rebell und die ,Mutter Erde'" (1978) handele es sich etwa um eine "sekundäre Überhöhung, die im Gewandt einer Analyse daherkam" und sich "vielerlei Idyllisierungen" schuldig gemacht habe. Besonders schlecht kommt aber Martin Greens Buch "Mountain of Truth" (1986) und dessen "Tendenz", den Monte Verità "als Paradies zu beschreiben" weg. Schwabs Kritik der Literatur über den Monte Verità überzeugt weitgehend, doch bleibt seine eigene Beschreibung selbst nicht frei von einigen Ungereimtheiten: So etwa wenn er zunächst feststellt, dass Otto Gross "real bloß kurz auf dem Monte Verità" gewesen sei, vier Seiten weiter hingegen erklärt, Gross habe sich "längere Zeit" dort aufgehalten. Eine konkrete Aufenthaltsdauer nennt er an keiner der beiden Stellen. Seltsam mutet auch an, dass der Monte Veritàner Carl Vester, der sich "freiwillig für den Krieg" gemeldet habe, in seinem Tagebuch unter dem Datum vom 31.1.1913 eingetragen habe, dass er wegen seiner langen Haare nicht genommen worden sei.
Trotz solcher Fragwürdigkeiten bleibt Schwabs Fazit plausibel. Der Monte Verità, so resümiert er, sei ein "kommerzielles Sanatorium" gewesen, "das innerhalb der kapitalistischen Welt, in welcher es sich befand, zwar einen gewissen alternativen Freiraum bewahren konnte, aber von einer weitreichenden Umgestaltung der sozialen oder ökonomischen Verhältnisse weit entfernt blieb".