Haarrisse

Judith Huber berichtet über die Situation der Frauen in Afghanistan

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wessen Zeit knapp bemessen ist, der sollte diese Rezension besser gleich zur Seite legen und sofort zu Judith Hubers Buch "Risse im Patriarchat" greifen. Wem die bloße Versicherung, ein lesenswertes Buch empfohlen zu bekommen, jedoch nicht genügt, der mag die Rezension erst zu Ende lesen und sodann Hubers Buch zur Hand nehmen. Lesen sollte man das Werk, mit dem die Schweizer Sozialwissenschaftlerin und Journalistin eine anschauliche und eindringliche Reportage über die Situation der Frauen im nachtalibanischen Afghanistan vorgelegt hat, aber auf jeden Fall.

Im Mittelpunkt von Hubers Bericht stehen drei prominente Afghaninnen, die von der Autorin im Herbst 2002 in Kabul aufgesucht, bei ihrer Arbeit beobachtet und zu ihren Lebensgeschichten befragt wurden. Da ist zunächst Sima Samar, die der für eine Ärztin überraschenden Auffassung ist, "dass Bildung letztlich wichtiger ist als Gesundheit". Im Frühjahr 2002 war sie zur ersten Frauenministerin Afghanistans ernannt worden und ist inzwischen Vorsitzende der Unabhängigen Menschenrechtskommission Afghanistans. Sodann suchte die Autorin Suraya Parliak auf, eine Politikerin, die während der Herrschaft der prosowjetischen Volkspartei die Geschicke des Landes mitbestimmte und davon überzeugt ist, dass der Islam nur ein Vorwand für die Aufrechterhaltung der patriarchalen Herrschaftsstrukturen sei: "Es sind die Männer, die verändert werden müssen." Hubers letzter Besuch galt Mahbuba Hoquqmal, einer Rechtsprofessorin und Sima Samars Nachfolgerin als Staatsministerin für Frauenfragen. Huber berichtet voller Sympathie, aber keineswegs unkritisch über Leben und Arbeit der drei Frauen, die "keinesfalls strahlende, reine Heldinnen" seien, sondern von "Zweifel[n] und Widersprüche[n]" geplagt würden.

Natürlich weiß Huber, dass die Biographien dieser Frauen sich eklatant von den üblichen Lebenswegen ihrer Landsmänninnen unterscheiden, die nach ihrem "jahrelange[n] Leid" vor Angst "buchstäblich gelähmt" sind. Daher beleuchtet die Autorin auch den Alltag afghanischer Frauen, genauer gesagt denjenigen von Kabul; so etwa in den Schulen, aber auch in der Psychiatrie oder im Frauengefängnis, in dem 23 der insgesamt 32 Inhaftierten wegen "Ehrdelikten" wie "'unziemliche' Beziehungen, Weglaufen von Zuhause, Flucht mit dem Freund aus dem Elternhaus, Ehebruch, Prostitution, Trennung vom Ehemann" einsitzen. Das übliche Strafmaß für solche Delikte liegt zwischen fünf und zehn Jahren. Was mit ihnen nach der Haftentlassung geschehen wird, weiß die Gefängniswärterin genau: "Diejenigen, die mit einem Mann abgehauen sind, können ihn heiraten." Sofern er sie dann noch wolle. "Für die andern aber gibt es keinen Platz in der Gesellschaft."

Hält man sich vor Augen, wegen welcher Delikte diese Frauen einsitzen, kann man ermessen wie ausgeliefert ihre in 'Freiheit' befindlichen Geschlechtsgenossinnen den Männern, insbesondere ihren männlichen Verwandten sind. Denn daran, dass Afghanistan "eine zutiefst patriarchalische Gesellschaft" ist, hat sich auch nach dem Ende der Taliban nichts geändert. Nach wie vor sind Frauen "eingeschlossen in ihre vier Wände oder in die Mauern, welche ihren Hof begrenzen", und dies nicht etwa weil es der Koran verlangen würde, sondern weil es den "traditionellen afghanischen Regeln" der Purdah entspricht. Dieses auch interessierten Westlern weitgehend unbekannte Purdah bezeichnet das althergebrachte System des Ausschlusses der Frauen aus dem öffentlichen Raum, welches das "zentrale Strukturprinzip" der afghanischen Gesellschaft bildet und auch heute noch die "Wertvorstellungen einer überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung" bestimmt. Huber legt das System der Purdah ausführlich dar und bringt es den Lesenden in seinen nicht nur materiellen sondern auch psychischen Auswirkungen bedrückend nahe. Denn Purdah, so die Autorin, "geht in Psychisches hinein, prägt Selbstwertgefühl, Willensentwicklung und begrenzt den Lebenshorizont, Purdah prägt den Gefühlsausdruck in Mimik und Gesten, Purdah ist die verhüllende unkenntlich machende Tracht der Frauen, diktiert die Architektur der Häuser und ist so handfest wie die dicken mannshohen Mauern, die jedes Haus und Grundstück vor Blicken von außen abschirmen". Purdah ermöglicht es den Männern ihre Frauen im Haus regelrecht gefangen zu halten. Wird einer solchen Gefangenen von ihren männlichen Verwandten erlaubt, das Haus zu verlassen, ist sie nur als "blaue[r] Schemen" sichtbar, der "eiligen Schrittes, möglichst unauffällig" und "tief verhüllt" durch die Straßen huscht.

Aber selbst die wenigen Frauen, die sich ohne Burka auf die Straße wagen, können es sich nicht erlauben, ziellos durch Kabul zu schlendern oder gar irgendwo zu verweilen und "den Blick schweifen" zu lassen. Eine Bemerkung Hubers, der zufolge auch "die Ausländerin" sehr schnell lernt, dass sich die Kommentare und Belästigungen durch Männer nur dann in einem "einigermaßen erträglichem Rahmen" halten, wenn sie gesenkten Blickes durch die Kabul geht, spiegelt offenbar eigene Erfahrungen wieder.

Die Risse, die Huber im afghanischen Patriarchat ausmacht, sind nicht mehr als allerfeinste Haarrisse, denn wie die Autorin zu Recht feststellt, reicht es nicht, dass drei Frauen in der Regierung sitzen und viele Kabulerinnen wieder arbeiten. Denn noch immer muss jede von ihnen damit rechnen, eine Infragestellung der "(angeblich) islamischen Grundwerte" mit dem Leben zu bezahlen. Es sei absurd von Frauenbefreiung zu sprechen, so Huber am Ende ihres Buches, "solange Frauen und Mädchen im Frauengefängnis oder in der Psychiatrie Schutz suchen müssen, weil sie draußen, in der männlichen 'Freiheit', ihres Lebens nicht sicher sind". Die Risse, von denen der Titel ihres Buche spricht, sind also kaum als Haarrisse zu erkennen. Doch auch Haarrisse können eine Erosion ankündigen, die eine Mauer schließlich zum Einsturz bringt.

Titelbild

Judith Huber: Risse im Patriarchat. Frauen in Afghanistan.
Rotpunktverlag, Zürich 2003.
242 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-10: 3858692603

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