Ruhig inmitten wütender Wogen
Nico Rosts literarisches Tagebuch aus dem KZ
Von Lutz Hagestedt
"Die alte Erde steht noch, und der Himmel wölbt sich noch über mir." Goethes Wort aus den "Gesprächen mit Eckermann" spendet dem 1944/45 im Konzentrationslager Dachau internierten Holländer Nico Rost Trost. Rost hat ein Abszeß am Bein und liegt auf der Krankenstation. Die Wunde schützt ihn vor einem eventuellen Transport und vor schweren körperlichen Einsätzen. Aus der reich bestückten Lagerbibliothek läßt er sich Goethes "Egmont" kommen, denn Egmonts Haltung auf dem Weg zur Hinrichtung gibt ihm Kraft und Vertrauen. Die Lagerbibliothek sei ausgezeichnet, schreibt er am 20. Juli 1944, am Tage des Attentats auf Hitler, und er wundere sich, welche guten Geister wohl für diese ungewöhnliche Ausstattung gesorgt hätten.
Nico Rost (1896 - 1967) ist mit der deutschen Literatur vertraut. Er hat "demokratische und klassische Werke" aus dem deutschen Sprachraum, darunter Gottfried Kellers "Fähnlein der sieben Aufrechten" und Georg Fosters "Ansichten vom Niederrhein" ins Holländische übersetzt und versucht, den Einfluß der Nazibarden in seiner Heimat zurückzudrängen. Im Konzentrationslager führt er Tagebuch, obwohl dies streng verboten ist. Er möchte sich Rechenschaft über seinen Widerstand ablegen und organisiert sich Papier, beobachtet das Lagerleben, entwickelt eine nationale Charakteristik der Gefangenen, spendet Blut - und liest. Goethe und Schiller, Büchner und Grillparzer, Kleist und Hölderlin, August Wilhelm und Friedrich Schlegel werden ihm zu Mitgefangenen, zu Gegnern des Naziregimes: verhaftet und deportiert, aber unsterblich. Die Gesellschaft der Klassiker bewirkt, daß er sich in Dachau freier fühlt, als er in Freiheit jemals war, frei von Todesfurcht. Er steht, nach einem Wort Wilhelm von Oraniens, "ruhig inmitten wütender Wogen". Der Kanarienvogel und das Goldfischglas in der Krankenstation lassen ihn an Carl von Ossietzky denken, der einmal das Strafsystem der Nazis als das des "desinfizierten Mörderpfahls" bezeichnet hat. Ein für den Schulgebrauch konzipiertes Heft dokumentiert die Dummheit und Borniertheit der Deutschen.
Ergriffen liest Nico Rost Goethes berühmte Reportage über die Schlacht von Valmy, in der Goethe - am Rande der Kanonade - "einen Bissen Brot von dem heute früh erworbenen" für sich reklamiert. Er habe, so Rost, erst nach Dachau kommen müssen, um die "Campagne in Frankreich" richtig schätzen zu lernen. Goethe heroisiere die Geschichte nicht, sondern teile uns in einem welthistorischen Moment mit, daß er Hunger habe. Als die Lebensmittelvorräte im KZ Dachau zu Ende gehen und die SS die eisernen Reserven des Roten Kreuzes plündert, erlebt Nico Rost die Befreiung des Konzentrationslagers durch die Amerikaner mit. Sein Tagebuch ist 1948 erstmals erschienen und dann in Vergessenheit geraten. Jetzt wurde es von Wilfried F. Schoeller neu herausgegeben und mit Materialien versehen.
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