Brückenschlag zwischen Früher Neuzeit und Moderne
Ein Text + Kritik-Band zum Barock
Von Bettina Bannasch
Programmatisch setzt der im Frühjahr 2002 in der Reihe Text + Kritik erschienene Band zum Thema "Barock" auf 'zeitgemäße' Begrifflichkeiten und Fragestellungen und versucht auf diese Weise, der notorischen Randständigkeit der Barockforschung innerhalb der Germanistik zu begegnen. Als eine der "Leitintuitionen [sic!] der Beiträger" nennt das Vorwort das Ziel zu zeigen, "dass die offensichtliche Alterität der barocken Kultur nicht zuletzt spezifischen medialen Apparaturen und Datenverarbeitungstechniken geschuldet" sei, "ohne die der barocke Text nur um den Preis seiner historischen Verfehlung verstanden werden" könne. Diese Andersartigkeit soll in Abgrenzung zum Werk- und Geniebegriff der Goethezeit entwickelt werden. Die im Vorwort in Anschlag gebrachte übergreifende medientheoretische Zugangsweise lösen freilich nicht alle Autoren ein. Wohl aber folgen sie - von einer Ausnahme abgesehen - der Bestimmung des Barock als einer Epoche, die in Abgrenzung zur Goethezeit definiert wird.
So zeigt der Beitrag zur Barockmystik von Bettina Gruber, dass die persönliche Gottesbegegnung in der Mystik von einer modernen Auffassung von Individualität kategorial zu unterscheiden ist. Wie Gruber anhand von Texten Greiffenbergs und Kuhlmanns vorführt, herrscht hier keine Autonomievorstellung, sondern der religiöse Gegenstand verleiht dem Individuum und seinen Gefühlen ihren Wert. Norbert Hummelt dagegen arbeitet Parallelen zwischen der Individualitätsauffassung der Moderne und des Barock heraus. Er behandelt die Vertonung von Friedrich von Spees - im Band vollständig abgedruckten - Gedicht "In stiller Nacht" durch Johannes Brahms. Die Einfühlsamkeit, so lautet Hummelts These, mit der Brahms seine Vertonung vornimmt und die Textvorlage verändert, verkürzt den Text nicht um sein Eigentlichstes. Vielmehr erschließt sich die in der psychologisch differenzierten Charakterzeichnung liegende Modernität der Christusdarstellung des frühneuzeitlichen Texts erst durch die Brahms'sche Umsetzung ganz. Damit stehen die Überlegungen Hummelts in anregendem Widerspruch nicht nur zu Grubers Argumentation, sondern auch zu den Grenzziehungen zwischen Barock und Moderne, wie sie die übrigen Texte vornehmen. Zu einer ertragreichen Irritation werden sie gleichwohl nicht; allzu sehr verlässt sich seine vergleichende Betrachtung auf die kaum verlässlich zu nennende Methode nachvollziehender Einfühlung. Das spezifisch Medientheoretische des Zugriffs, das sich durch die unterschiedlichen Darbietungsformen von Literatur und Musik angeboten hätte, tritt dabei hinter den inhaltlichen Ausführungen zurück.
Das gilt auch für Thomas Heckens Beitrag über die Darstellung der Lüste im Barock. Die Ankündigung, durch einen interdisziplinären Ansatz Literatur, Sexualität und Recht miteinander in Beziehung zu setzen, erweist sich als Vorspann zu einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung mit Nebenschauplätzen. Parallel zu dem Auseinandertreten von Liebes- und Staatsroman gegen Ende des 17. Jahrhunderts konstatiert Hecken in der Liebeslyrik eine Verselbstständigung der Darstellung von Erotik. Sein Aufsatz leistet damit einen - sehr vergnüglich zu lesenden - weiteren Beitrag zur übergreifenden Frage nach der Definition von Individualität an der Schwelle zur Moderne. Heinz Ludwig Arnold verzichtet auf die Ankündigung von kulturwissenschaftlichen Ausblicken und bietet von vornherein eine im besten Sinne solide literaturwissenschaftliche Untersuchung. Entlang der zwischen 1695 und 1727 erschienenen Vorreden zur Neukirch'schen Sammlung, einer Anthologie zeitgenössischer deutschsprachiger Dichtung, postuliert er einen Paradigmenwechsel vom Manierismus des Spätbarock zum Ideal des Einfachen und Vernünftigen im Klassizismus der Frühaufklärung.
Das Barock als eine Übergangszeit bestimmt auch die Abhandlung zur Rolle der Imagination von Peter André Alt. Alt definiert Imagination im 17. Jahrhundert als das Vermögen, eine intermediale Transferleistung vom Bild zum Begriff und vom Begriff zum Bild zu erbringen. Zwei Aspekte hebt Alt dabei hervor. Zum einen betrifft dies den religiösen Aspekt der Wiederherstellung der göttlichen Ordnung, unter dem die literarische Bildsprache nicht zu Illustrationszwecken dient, sondern benötigt wird, um den metaphysischen Gehalt der Dinge zu erschließen. Zum anderen verweist Alt auf den didaktischen Aspekt der Imagination, der an konkreten Beispielen von Emblem, Traum und Festinszenierungen erläutert wird. Der Aufsatz führt anschaulich die beiden wesentlichen Aspekte der frühneuzeitlichen Imaginationsauffassung vor und leistet einen wichtigen Beitrag zur intermedialen Fragestellung des Bandes. Ebenfalls auf eine Weise, die nicht nur den guten Willen zur Modernisierung der Forschungsliteratur über frühneuzeitliche Themen zum Ziel hat, sondern die auch die Erträge eines solchen Zugriffs unmittelbar einsichtig werden lässt, verknüpft Nils Werber Literaturwissenschaft und Medientheorie. Werber entfaltet seine Überlegungen an dem konkreten Fallbeispiel von Philipp von Zesens Roman "Assenat". "Assenat", so lautet seine Romandeutung, trägt dem neuen News-Diskurs ebenso Rechung wie einer die göttliche Ordnung wiederherstellenden Traditionspflege. Werbers Beitrag korrespondiert auf überzeugende Weise mit den Ausführungen Alts. Beide machen das Barock als eine Übergangszeit einsichtig, die sich nicht einfach dadurch auszeichnet, dass in ihr unterschiedliche und widersprüchliche Diskurse nebeneinander bestehen, sondern dadurch, dass diese unterschiedlichen Diskurse innerhalb eines Werks oder innerhalb eines Begriffsfeldes in ihrer Widersprüchlichkeit als aufeinander bezogene inszeniert werden.
Ingo Stöckmann, der zugleich für die Redaktion des Bandes verantwortlich ist, bezieht über Foucault und Luhmann hinaus schließlich auch neuere Forschungsansätze zum Verhältnis von Text und Körper in seine Ausführungen mit ein. Er verfolgt die Entwicklung von Bedeutungszuschreibungen, die zunächst außerhalb der Texte gegeben werden und sich erst mit dem Ende der Frühen Neuzeit in die Texte hinein verlagern. Diese Entwicklung ist, so argumentiert Stöckmann, zum einen dem Prozess der zunehmenden Verschriftlichung geschuldet, der rhetorische Bedeutungszuschreibungen durch Gesten etc. hinfällig werden lässt. Zum anderen geht er einher mit einer neuen Wahrnehmung des Körpers, der nicht mehr länger als Garant für die Wahrheit der Rede einzustehen vermag, sondern zunehmend als ein Medium höfisch geschulter Verstellung gesehen wird. Der Beitrag von Stefan Rieger bildet das Pendant zu Stöckmanns Überlegungen. Er geht den kompilatorischen und kombinatorischen Verfahren in der Dichtkunst des 17. Jahrhunderts nach und bringt sie mit einem Autorschaftsverständnis in Verbindung, das erst das 20. Jahrhundert wieder aufgreift. Die Klammer zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert, die Rieger markiert, nimmt dem 'Fortschrittsargument' in Stöckmanns Beitrag die Spitze, ebenso wie umgekehrt der kühne Brückenschlag Riegers durch Stöckmanns Argumentation relativiert wird.
Das Neben- und Gegeneinander der Positionen, die in den einzelnen Beiträgen vertreten werden, macht den Sammelband konzeptionell einsichtig und die Lektüre lohnend; darin liegt seine Stärke. Hinzu kommt das Verdienst, mit Selbstverständlichkeit auf Positionen wie die Foucaults, Luhmanns und Kittlers Bezug zu nehmen - bis heute keineswegs gängig in der Barockforschung. Zugleich aber markieren die Beiträge ein Dilemma, das nach wie vor auch in der neueren Barockforschung zu bestehen scheint: um das Barock aus seiner randständigen Position zu befreien, wird diese Epoche entweder als die 'Wegbereiterin' der Moderne verstanden, oder aber die Goethezeit wird 'ausgeklammert' und der Sprung ins 20. Jahrhundert gewagt. Gelungen wäre der Brückenschlag zwischen Früher Neuzeit und Moderne jedoch erst dann, wenn er genutzt würde, um die Brücke in beide Richtungen gangbar zu machen.
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