In jedem echten Gedicht muss es spuken
Manfred Hilke untersucht das Verhältnis von Surrealismus und Parapsychologie in Gedichten André Bretons
Von Rainer Zuch
Das Leben kann komisch sein. Manchmal beschäftigt man sich mit einer bestimmten Sache, und dann begegnet man ihr so oft, dass man sich fragt, ob hier Zufälle oder Koinzidenzen und übersinnliche Mächte am Werk sind: Verfolge ich die Dinge oder sie mich? Robert Anton Wilson, der Autor von solch fantastisch-obskuren Werken wie der "Illuminatus!"-Trilogie und "Schrödingers Katze", hat einmal geschrieben, er sammle Zufälle mit der Zahl 23, um sich selbst zu ärgern, denn tatsächlich handle es sich weder um Zufall noch um Magie, sondern um das Wirken der eigenen Wahrnehmung.
Dieser Gedankengang sagt natürlich nichts über die Existenz oder Nichtexistenz parapsychischer Phänomene aus, markiert aber ein wichtiges methodisches Problem. Und sowohl die Parapsychologie als auch das Phänomen der von unbewussten psychischen Prozessen gesteuerten Aufmerksamkeit waren für die Surrealisten, um die es in der zu besprechenden Arbeit geht, von gesteigertem Interesse.
Manfred Hilke hat sich in seiner Dissertation "L'écriture automatique - Das Verhältnis von Surrealismus und Parapsychologie in der Lyrik von André Breton" vorgenommen, das Verhältnis von Parapsychologie und Surrealismus näher zu beleuchten. Die literaturwissenschaftliche Arbeit entstand im Rahmen eines Forschungsprojekts des Instituts für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP) an der Universität Freiburg, das den einzigen deutschen Lehrstuhl für Parapsychologie stellt. Die Ausgangsbedingungen sind also günstig.
Auf der formalen Seite schlägt sich das leider nicht nieder. Das Lektorat fällt vor allem durch seine Abwesenheit auf. Der Text ist manchmal redundant und enthält zahlreiche Schreib- und Formatierungsfehler, hier und da sogar unvollständige Sätze. Auch die Anmerkungen hätten einer Überarbeitung bedurft. Die Zitierweise ist uneinheitlich und gelegentlich fehlerhaft. Mehrere Kapitelüberschriften unterscheiden sich im Inhaltsverzeichnis und im Text. Auch der Druck lässt mangelnde Sorgfalt erkennen. Solche ärgerlichen Fehler dürften einem renommierten Verlag nicht unterlaufen, zumal das Buch nicht gerade billig ist.
Aber nun zum Inhalt. Erstaunlicherweise ist die Erforschung des Verhältnisses von Surrealismus und Parapsychologie immer noch ein Desiderat, obwohl es eine ganze Reihe von Anknüpfungspunkten gibt, etwa die "écriture automatique", die mediumistische "Epoche der Schlafzustände" im Winter 1922/23, das Interesse an Esoterik, Okkultismus und Alchemie sowie - seltsamerweise am unbekanntesten - an der wissenschaftlichen Parapsychologie im Frankreich der zwanziger Jahre. Das ist natürlich ein sehr umfangreiches Gebiet, weshalb Hilke sich auf parapsychologische Elemente in den frühen automatischen Schreibexperimenten beschränkt. Der Hauptteil der Arbeit besteht sogar aus der Analyse eines einzigen Gedichtes: André Bretons "Tournesol" von 1923.
Hilke beginnt mit einem historischen Überblick, in dem er die Quellen des Interesses am "Übersinnlichen" bei den Surrealisten herausarbeitet und in der Geschichte des Surrealismus verschiedene Phasen der Auseinandersetzung darstellt. Sowohl die Biografien wie auch die Geschichte der Bewegung sind außerordentlich detailreich.
Hier machen sich allerdings erste methodische Schwächen bemerkbar. Der Autor legt eine instruktive Zusammenstellung von Biografien wichtiger Surrealisten vor, setzt sie jedoch kaum zueinander in Beziehung. Die Einteilung des untersuchten Zeitraums in drei Phasen (1914-1919: erste Begegnungen und Kriegserfahrungen; 1919-1924: automatische Experimente; 1924-1930: Frühphase des Surrealismus) erweist sich zwar als nützlich und gewinnbringend. Man kann jedoch nicht ernsthaft von "Drei Phasen des Surrealismus" sprechen, denn mehr als die Hälfte des besprochenen Zeitraums gehört nicht zum Surrealismus, sondern zu dessen Vorgeschichte. Breton datiert erste surrealistisch interpretierbare Aktivitäten auf 1919. Außerdem blendet Hilke fast völlig aus, dass die Surrealisten bis 1922 erklärte Dadaisten waren. Der Dadaismus kommt bei ihm nur als Aspekt der Vorgeschichte des Surrealismus vor.
Im nächsten Kapitel wird die Zeitschrift "l'ère nouvelle" besprochen, in der sowohl spätere Surrealisten wie auch Mitglieder des 1919 gegründeten "Institut Métapsychique International" als Autoren auftraten - Metapsychik war der damalige Begriff für Parapsychologie. Der Name, der "Neues Zeitalter" bedeutet, ist typisch für die ersten Nachkriegsjahre, in denen künstlerisch-literarische wie auch wissenschaftliche avantgardistische Kreise in Aufbruchstimmung waren und utopische Hoffnungen pflegten. Anschließend geht Hilke mit Alfred Maury, Charles Richet, F. W. H. Myers, Pierre Janet und Freud auf mehrere wichtige Anreger des surrealistischen Interesses an Psychologie und Parapsychologie, vor allem an der Idee des automatischen Schreibens ein.
Völlig zu Recht schließt sich eine Diskussion des ersten automatischen Textes im Vorfeld des Surrealismus an: "Les Champs magnétiques", 1919 gemeinsam verfasst von Breton mit Philippe Soupault. Er ist besonders geeignet, um zu zeigen, dass die "écriture automatique" zwar ihre Herkunft in spiritistischen Sitzungen und psychoanalytischen Techniken hat, im surrealistischen Gebrauch aber nicht mehr viel davon übrig bleibt. Die gesamte zweite Hälfte der Arbeit nimmt die Analyse des Gedichts "Tournesol" ein. Breton selbst maß ihm einen parapsychologischen Gehalt zu, indem er es als Vorahnung seiner Begegnung mit seiner späteren Frau Jacqueline Lamba 1934 wertete.
Hilke breitet im Vorfeld ein umfangreiches literaturwissenschaftliches Instrumentarium aus. Seine psychologischen Interpretationsansätze erscheinen jedoch methodisch schwach. Er versucht eine Kombination aus Gaston Bachelards Idee vom "poetischen Bild", Freuds Traumdeutung und C. G. Jungs Amplifikationsmethode, ohne deren Unterschiede und Widersprüche zu beachten. Die Verwendung des Jung'schen Archetypenbegriffs für wiederkehrende literarische Motive zeugt eher von einem Missverständnis.
Die eigentliche Textanalyse ist extrem genau und geht fast Wort für Wort vor. Hilke klopft den Text nicht nur auf biografische und psychoanalytische Gehalte ab, sondern lotet assoziativ den Bedeutungshorizont von Worten und Satzteilen bis in die letzten Winkel aus. Dies führt zu spannenden Assoziationsketten und mehreren aufschlussreichen Reformulierungen des Gedichts, in denen Hilke verschiedene Sinnebenen des Gedichts präsentiert, wobei sich die Grenzen zwischen Wissenschaft und Poesie zwangsläufig auflösen: Die Textanalyse wird zum poetischen Assoziationsexperiment. Allerdings stoßen wir hier auf das eingangs erwähnte "23-Problem": Welche Bedeutungen Breton einfließen ließ und welche von Hilke stammen, bleibt letztlich so offen wie die Frage nach einem etwaigen parapsychologischen Gehalt.
Insgesamt hinterlässt das Buch einen zwiespältigen Eindruck. Den interessanten poetologischen Experimenten stehen methodische Fehler und eine oft unpräzise Argumentationsweise gegenüber. Auch das Gesamtergebnis irritiert. Zwar gibt Hilke eine schlüssige Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Parapsychologie und "écriture automatique" - von der Rezeption parapsychologischen Gedankenguts abgesehen, ist kein sicherer Zusammenhang feststellbar -, die Gedichtanalyse im Hauptteil beschreitet jedoch einen ganz anderen Weg, da die Frage nach der Parapsychologie nur einen, wenn auch herausragenden Aspekt von mehreren bildet. Es bleibt weiterhin der Fantasie der Lesenden überlassen, ob es in dem Gedicht spukt oder nicht.