Der Prophet Elias

Canettis Selbstinszenierungen

Von Michael RohrwasserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Rohrwasser

70 Jahre nach dem Erscheinen des Romans "Die Blendung" sind genügend Fragen offen geblieben: Woher rührt die Beunruhigung, die auch eine neuerliche Lektüre weckt, warum trägt die moderne Gelehrtentragödie den Titel "Die Blendung", warum zündet Peter Kien am Ende sich und seine Bibliothek an? 70 Jahre später, so scheint es, hat sich zudem das Bild des Autors verdoppelt. Den Nobelpreis für Literatur (1981) bekam jedenfalls nicht der Schöpfer dieses abweisenden und bedrohlichen Philologen-Romans, der sich allen positiven Figuren wie hoffnungsvollen Deutungen verschließt, sondern ein freundlicher älterer Herr, der Verfasser einer ins Gelingen verliebten "Lebensgeschichte", die an das Programm der Weimarer Klassik erinnert.

Claudio Magris erzählt in seinem Buch "Donau. Biographie eines Flusses" (dt. 1988) von zwei Autoren: der eine "ein geheimnisvolles, außergewöhnliches Genie, das vielleicht verschwunden und für immer unerreichbar ist, der Schriftsteller, der 1935, im Alter von dreißig Jahren, sein einziges wirklich großes Buch, eines der größten dieses Jahrhunderts, veröffentlicht hat, die Blendung, das damals schon bald wieder von der literarischen Bildfläche verschwand", der andere ein liebenswürdiger alter Herr, "der sich selber als Führer durch die eigenen Labyrinthe betätigte". Den Nobelpreis habe Canetti weder für die "Lebensgeschichte" noch für die "Blendung" bekommen, präzisiert Magris, sondern dafür, dass er uns "einen Leitfaden für die Lektüre, die Interpretation, den Kommentar zur Verfügung stellte". Canetti schien von Magris' These wenig angetan. In seinen nachgelassenen "Aufzeichnungen" heißt es (ohne dass ein Name fällt): "Immer-rascher-Schwätzer, seine Lehrzeit in Zeitung und auf dem Katheder. Sein Gegenstand: ein Strom und die Literaturen an seinem Lauf. Je langsamer der Fluß, um so rascher das Geschwätz".

Das Bild vom liebenswürdigen Dichter als Führer, der seine jungen Leser bei der Hand nimmt, auf dem Weg durch ein irgendwie gefahrvolles Labyrinth, lässt sich schnell problematisieren, wenn man statt von Führung von Interpretationsvorgaben, Lenkungen oder "Leseanweisungen" sprechen will. Wer seine eigenen Werke kommentiert, ist nicht nur hilfreicher Führer sondern auch einer, der die Wirkung seiner Bücher kontrollieren will, ein literaturpolitischer Machthaber, der die Rezeption lenkt. Dahinter verbirgt sich vielleicht der uneingestandene Wunsch, "dass nur Canetti über Canetti reden dürfe" (Magris). Vermutlich fällt es schwer, einen anderen Autor zu nennen, der in einer vergleichbar intensiven Weise seine philologischen Bearbeiter beobachtet und beraten hat wie Canetti dies zu Lebzeiten tat. Am ausführlichsten ist sein Selbstkommentar zur "Blendung" geraten. Doch eine Enttäuschung ist hier vorgezeichnet. Magris schreibt, dass Canetti "im Grunde nichts über dieses grandiose Buch" sage, "und auch nichts über dessen unvorstellbaren Autor, der sich am Rande der Katastrophe und des Nichts befunden haben muß [...]; statt dessen hat er die Kanten abgeschliffen und die Dinge in einem bündig-versöhnlichen Ton zurechtgerückt, als wollte er versichern, daß im Grunde genommen alles in Ordnung sei".

Nichts ist in Ordnung, soviel ist gewiss, und darum lohnt es durchaus, Canettis Kommentar unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Der ältere Herr, so könnte man Magris' Erzählung ergänzen, erklärt uns wortgewandt und weitläufig die Geschichte seines frühen und einzigen Romans, er erzählt uns seine merkwürdige wie einmalige Produktions- und Rezeptionsgeschichte, er liefert seinen Lesern einen vielstimmigen und ausführlichen Kommentar, der schon bald nach dem Erscheinen des Romans einsetzt und mit der Zeit verschiedene Fassungen gewinnt. Zuerst stoßen wir auf verstreute Notizen in den "Aufzeichnungen", dann auf Anmerkungen in "Gesprächen und Reden", schließlich gibt es einen Essay von 1973 mit dem Titel "Das erste Buch: 'Die Blendung'", und endlich haben wir die dreibändige Autobiografie mit einem komplexen Netz von Motiven: Geschichten vom Feuer, Begegnungen mit der Masse, Erfahrungen mit Gemälden, Büchern und mit dem bedrohlichen Berliner Großstadtdschungel. Am Ende des zweiten Bands stoßen wir auf die explizite Produktionsgeschichte des Romans, und in der ersten Hälfte des dritten Bands auf die Darstellung seiner komplizierten Rezeptionsgeschichte. Der Autor zählt die Anstöße, Einflüsse und Gegeneinflüsse auf, Begegnungen mit Menschen, Lektüren wie historische Zäsuren. Eine Fülle von Stichworten wird in der "Lebensgeschichte" versammelt: "Die Blendung" sei entstanden aus dem Konflikt zwischen Wiener Eindrücken und Berliner Erlebnissen; das Buch sei gewachsen durch die Konfrontation mit der Masse der Straße (vor allem durch die Erfahrung des Justizpalastbrandes vom Juli 1927); es sei geschrieben mit dem Blick auf die Steinhof-Klinik, diese "Stadt der Irren" mit ihren 6.000 Bewohnern; geschrieben gegen die gut gehasste, erfolgreiche Wiener Literatur der Zeit (an der Canetti gleichwohl partizipierte); beeinflusst sei der Roman auch durch die fünf Jahre im chemischen Labor (was ein verworfenes Kapitel von "Die Fackel im Ohr" nahe legt). Außerdem sei "Die Blendung" ein Buch, das der Mutter beweisen sollte, dass der Sohn die soziale Wirklichkeit nicht verleugne, ein Versuch also, sich mit der Mutter zu versöhnen. Und schließlich sei der Roman ein Versuch, die zerfallende Welt mit ihrer expansiven, zentrifugalen Tendenz zu zeigen (für seine Figurenzeichnung wählt er das Bild von "lebende[n] Ein-Mann-Raketen"). Der Roman solle ganze ohne die "üblichen Tricks der Harmonisierung" funktionieren, ohne aber "in eine chaotische Form" zu münden.

Wir erfahren, dass Canetti täglich in Stendhals "Le Rouge et le Noir" gelesen hat (so wie Stendhal damals sich durch die Lektüre im "Code Napoleon" hat stimulieren lassen), dass er daneben Aristophanes, Lessing, Gogol, Balzac und natürlich Karl Kraus las und dass sein Blick wieder zurück auf den "Don Quijote" fiel, dass er nach der Niederschrift des achten Kapitels auf Kafkas Erzählung "Die Verwandlung" gestoßen sei (ein Hinweis, den er uns im Essay von 1973 gibt, in der "Lebensgeschichte" aber verschweigt). Wir hören auch, dass er den Roman mit Blick auf Michelangelos "Jüngstes Gericht" und dann mit den Reproduktionen von Grünewalds "Isenheimer Altar" vor Augen geschrieben hat, im ferneren Hintergrund noch Bilder wie Brueghels "Sechs Blinde" und "Triumph des Todes" oder Rembrandts "Die Blendung Simsons". Canettis Beschreibung dieses letzten Bildes (in "Die Fackel im Ohr") lässt sich als poetologischer Kommentar zur Titelmetapher des Romans lesen, und, so meint der Autor, der Roman selbst ließe sich überhaupt als ein Buch über den Isenheimer Altar verstehen. Dagegen ist Canetti sparsam mit direkten Einlassungen auf den Roman und seine Figuren oder gar mit interpretatorischen Ansätzen. Am ausführlichsten äußert er sich 1968 über Struktur und Figurenkonstellation der "Blendung" im Gespräch mit seinem alten Züricher Lehrer Friedrich Witz. In einem anderen Gespräch, 1965 mit Horst Bienek, macht Canetti höflich, aber bestimmt klar, dass es mit den Interpretationen des Romans bislang noch nicht weit her war: "Das Buch bietet die verschiedensten Aspekte, von denen manche noch nicht mal bemerkt worden sind" - damit postuliert er nebenbei auch die Unabgeschlossenheit seiner Selbstkommentare.

Mit Hilfe von Canettis Kommentaren und denen seines Biografen, Sven Hanuschek, lässt sich die Chronik der Entstehung des Romans zusammenfassen:

Ende 1929, nach seiner Rückkehr aus Berlin und dem Abschluss seiner Promotion, finanziell abgesichert durch Übersetzungsaufträge und eine kleine väterliche Erbschaft, hat er den Plan einer "Comédie Humaine an Irren" mit einer Reihe von Figuren entwickelt, von denen schließlich acht übrig geblieben waren, die ihn während eines Jahres fesselten und in Bewegung hielten. In diesem Jahr habe er an allen acht Figuren (Romanen) gleichzeitig gearbeitet; wiederholt betont er, dass dieses Jahr "das geistig ausschweifendste Jahr meines Lebens" gewesen sei. Er schreibt zuhause und unterwegs, springt zwischen den Figuren hin und her, bis unter dem Eindruck des Feuers vom Justizpalastbrand "das Gleichgewicht unter den Figuren" zerstört wurde; nun rückt Brand, der Büchermensch, ins Zentrum. "Das asketische Jahr des Romans" beginnt. Im September 1930 sitzt er bereits an der Niederschrift, und im Oktober 1931 schließt er, nach einer kurzen Pause, das Manuskript ab. Eine halböffentliche Rezeptionsgeschichte beginnt, da von nun an einige Freunde das Manuskript lesen, da Canetti verschiedene Lesungen gibt, in Zürich und in Wien, wo das Buch "immerhin schon ein Gerücht geworden war". Der Büchermensch trägt anfangs den Namen Brand, Therese heißt noch Hermine. Später wird aus Brand dann Kant, und aus Titeln wie "Die Allmacht des Geistes", "Ein Kopf erkrankt", "Ein Kopf zündet sich an", "Ohnmacht des Geistes" wird "Kant fängt Feuer". Thomas Mann, der das Manuskript in drei Bänden im November 1931 zugeschickt bekommt, sendet es ungelesen zurück, auch die Mutter weigert sich das Manuskript zu lesen, eine Reihe von Verlagen lehnen das Buch ab, darunter auch der S. Fischer Verlag, der inzwischen das Drama "Hochzeit" im Bühnenprogramm führt. Aus diesen Weigerungen und Ablehnungen sei aber sein "Glaube an den Roman" gestärkt hervor gegangen. Er ist sich, und dabei verweist er auf sein Vorbild Stendhal, "der Nachwelt" sicher. Canetti erweckt in seinen Kommentaren auch den Eindruck, dass er anfangs an einer Veröffentlichung des Romans noch nicht sonderlich interessiert war: "Aber Die Blendung ließ ich auch liegen, obwohl sie mir gefiel. Ich wollte Distanz dazu gewinnen".

Erst im Oktober 1935 erscheint der Roman dann im jungen Wiener Verlag Herbert Reichner, mit einer Titelillustration von Alfred Kubin, die den lachenden Peter Kien inmitten von Flammen zeigte. Kubin war vom Roman so begeistert, dass er anbot, das ganze Buch zu illustrieren, was der Verlag leider ablehnte. Auch der erste Entwurf eines Titelbilds, das eine Kröte auf einem Bücherhaufen zeigt, wurde von Reichner abgelehnt. Canetti verschickt 13 Widmungsexemplare, alle auf den 17. Oktober 1935 datiert. Es gibt eine Reihe respektabler Besprechungen, auch Thomas Mann gehört nun zu den Lesern; 1937 erscheint eine erfolgreiche tschechische Ausgabe, dann bricht die Rezeption im Kontext von Vertreibung und Krieg zusammen. Erst 1946 erscheint die englische Ausgabe mit dem Titel "Auto da Fé", der sich in der Folgezeit bei den meisten Übersetzungen behaupten wird.

Im Essay wie in der "Lebensgeschichte" betont Canetti, dass am Manuskript, das er im Oktober 1931 abgeschlossen habe, nichts mehr geändert worden sei, außer dem Namen des Helden (von Kant zu Kien) und dem Titel des Romans (von "Kant fängt Feuer" zu "Die Blendung"). Offenbar hat Canetti aber doch noch einige Seiten aus dem Manuskript gestrichen.

Die Selbstkommentare von Canetti, soviel war deutlich geworden, sind bei aller Ausführlichkeit nicht erschöpfend, und mit der Fülle der genannten Namen war wohl nicht die Absicht verborgen, andere Titel und Namen auszuschließen. Canetti selbst verweist gelegentlich auf Techniken des Verschweigens und der Gegeneinflüsse (und einige der kryptischen Hinweise legen es offensichtlich darauf an, entziffert zu werden; sie sind für die Eingeweihten bestimmt). So wird beispielsweise Otto Weiningers "Geschlecht und Charakter" zu jenen ungenannten Büchern zählen, deren Einfluss auf "Die Blendung" entzifferbar bleibt, und deutlich ist auch die starke antipsychoanalytische Strömung des Romans, die in vielen kaum versteckten Hinweisen auszumachen ist (auch wenn Hermann Broch befand, dass "Die Blendung" mit Psychoanalyse wenig zu tun habe). Vermutlich gehört auch Gustave Flauberts Jugenderzählung "Bücherwahn", zu den ungenannten Lektüren, deren erste deutsche Übersetzung 1921 ebenfalls von Alfred Kubin illustriert worden war (gleich zwei seiner Zeichnungen zeigen den Büchernarren inmitten einer brennenden Bibliothek). Flaubert hatte die Erzählung "Bibliomanie" 1836, als 14-Jähriger, geschrieben. Nach den Prozessakten des Antiquars Don Vincente aus Barcelona erzählt er die Geschichte des ehemaligen Mönches Giacomo, der aus Bücherbesessenheit zum Mörder und Brandstifter wird und eine große Bibliothek in Flammen aufgehen lässt. Giacomo ergreift eine Leiter, lacht laut auf und schwingt sich ins brennende Haus, aber nicht um Menschen, sondern um Bücher zu retten - die Parallelen mit dem Ende von Peter Kien und mit dessen frühen Opfertraum sind deutlich. Beide Büchernarren, Kien wie Giacomo, vereint noch ein Letztes - sie sind von Büchern eingeschlossen, ohne wirklich zu lesen (Peter Kien liest nur noch, um sich zu dessen zu vergewissern, was er schon weiß, und von Giacomo heißt es gleich anfangs, dass er des Lesens kaum fähig war und die Wissenschaft liebte, "wie ein Blinder den Tag liebt").

Es wäre indessen wenig befriedigend, den großen Kommentar Canettis mit einigen weiteren Namen zu ergänzen. Mein Interesse richtet sich stattdessen auf jene vierjährige Spanne zwischen der Beendigung der Arbeit am Manuskript und der späten Publikation des Romans. Wir wissen aus verstreuten Anmerkungen, auch aus solchen von Hanuschek, wie fremd am Ende dieser vier Jahre Canetti der eigene Roman erschienen war. An seinen Bruder Georg schreibt er am 15. Oktober 1935: "Was es für einen Menschen bedeutet, ein Manuskript, das vier Jahr [...] brach lag, endlich als Buch zu sehen, das kannst Du Dir schwer vorstellen. Es sind keineswegs bloß angenehme Gefühle; man ist so weit weg von einem Werk, und soll es jetzt erst öffentlich vertreten. Man kommt sich dabei wie ein Schwindler vor, denn nur einzelnes gefällt einem ja noch, manches mag man gar nicht mehr, und wenn ich auch die zwanzig allerschwächsten Seiten ausgemerzt habe - an eine ernsthafte Überarbeitung ist gar nicht zu denken, denn da würde kein Satz auf dem andern bleiben." Dass Canetti in der Figur des Sinologen (eigentlich in beiden Brüdern) ein Stück von sich selbst gestaltet hat, was die Namen Kant und Kien schon verrieten, wird seine Ambivalenz verstärkt haben. Auch wenn die Rezeptionsgeschichte des Romans durch vereinzelte Leser, durch Lesungen und Hörensagen sofort einsetzt, bleibt diese vierjährige Spanne das Ungewöhnliche: Wie verändern sich die Leseweisen im Laufe dieser Jahre, in denen die Benedikt Pfaffs zum Blockwart aufrückten (oder noch weiter nach oben) und deutsche Horden sich in Heerblöcke formierten (nicht in Massen)? Zwar kommentiert Canetti in seiner "Lebensgeschichte" die Entwicklung in Österreich nur am Rande, doch vermutlich fällt in diese Spanne eine wichtige Zäsur, die die Lektüre des noch unveröffentlichten Romans verändert. Ich meine die nationalsozialistische Inszenierung der Bücherverbrennungen im Mai 1933 (auch die von Canetti übersetzten Bände von Upton Sinclair gehen in den Flammen auf). Es ist spekulativ zu fragen, wie wir den Roman ohne diese große Staatsbrandstiftung gelesen hätten. Aber man kann Canettis Selbstkommentar mit Blick auf diese Zäsur lesen und fragen, wie die Bücherbrände von 1933 den Kommentar über Kiens Scheiterhaufen beeinflusst haben. Die Konnotation von Bücherverbrennung und Barbarei wird im Mai 1933 zementiert, und damit werden andere Traditionslinien ausgeblendet. Die Brandstiftung am Ende des Romans erhält mit den Bücherbränden von 1933 einen neuen Kontext.

Ich konzentriere mich nun auf Canettis Darstellung in dem kleinen Essay von 1973 und dann in der "Lebensgeschichte", die nicht in einem "Brief an die Mutter" und in der Arbeit an der Unsterblichkeit aufgeht, sondern die immer auch Lesanweisung für das Werk ist. In dem Essay "Das erste Buch: Die Blendung" unterstreicht er besonders die realistischen Elemente seines Romans: die Bedeutung der Massenerlebnisse und der beiden Reisen nach Berlin (wobei die zweite Reise im Dunkel bleibt), er berichtet von der Haushälterin in der Hagenberggasse, die der Therese zum Vorbild dient etc. Weiten Raum nimmt die Schilderung des Justizpalastbrands ein, und Canetti weist hin auf den Aktenjammerer, der beklagt, dass die Akten verbrennen, ohne sich darum zu kümmern, dass um ihn herum Menschen sterben. Mit dem Satz "Im August 1931, vier Jahre nach dem 15. Juli, legte Kant Feuer an seine Bibliothek und ging in ihrem Brand zugrunde", unterstreicht Canetti die Verbindung des Romans zu dem Geschehen von 1927, das (nicht nur) die österreichische Literatur nachhaltig geprägt und die massenpsychologischen Theorien (nicht nur) von Canetti sondern auch von Manès Sperber, Wilhelm Reich, Ernst Fischer und Hermann Broch beeinflusst hat. Vier Jahre trennen den Roman vom großen Brand in Wien, vier Jahre trennen ihn noch von seiner Veröffentlichung.

In "Die Fackel im Ohr" berichtet Canetti ausführlich von seiner Freundschaft mit dem an den Rollstuhl gefesselten Thomas Marek (i. e. Herbert Patek), dem er eines Tages vom Justizpalastbrand erzählt, bis der Gelähmte in wildes Gelächter ausbricht, wodurch sein Rollstuhl ins Rollen gerät. Er kennzeichnet seine Erzählung damit als eine, die kinetische Energie und eine sichtbare Vitalität entfaltet, die anstößt und aufweckt. Es habe ihn nun "wie ein Blitz" getroffen, schreibt Canetti weiter, und damit sei "das Gleichgewicht unter den Figuren [...] zerstört" worden, und Brand, der Büchermensch, sei so ins Zentrum gerückt: "es war dieses Feuer, an dessen Erwartung die anderen Figuren allmählich verdorrten". Einige Monate hält Canetti am Namen Brand fest, aber weil in diesem Namen das Ende so deutlich aufgeleuchtet habe, so dass er fürchtete, "das Feuer konnte vorgreifen", musste er ihn schließlich in Kant umtaufen. "Ein ganzes Jahr lang hatte er mich in seiner Gewalt. Die Unerbittlichkeit, mit der diese Arbeit sich fortspann, war für mich eine neue Erfahrung. Ich hatte das Gefühl einer Gesetzmäßigkeit, die stärker war als ich selbst [...]. Im Herbst 1931 legte Kant Feuer an seine Bibliothek und verbrannte mit seinen Büchern. Sein Untergang ging mir so nahe, wie wenn es mir selber geschehen wäre".

Geschildert wird hier eine Geburt des Romans aus dem Feuer, die Ursprungsmythologie eines Autors wird geschmiedet, und angeleuchtet wird schon das Thema der Verantwortung, die der Autor mit dem letzten Kapitel auf sich geladen hat, ein Thema, das im nächsten Band der "Lebensgeschichte" sofort ins Zentrum rücken wird. Damit gewinnt ein untergründiges Motiv an Gewicht, in dem die Zeichen der Zeit eingebrannt sind: der Autor als Prophet.

"Das Augenspiel" setzt dort ein, wo der vorangegangene Band geendet hatte:

"Kant fängt Feuer, so hieß damals der Roman, hatte mich verwüstet zurückgelassen. Die Verbrennung der Bücher war etwas, das ich mir nicht vergeben konnte. Ich glaube nicht, dass es mir um Kant (den späteren Kien) noch leid tat".

Das Schlussmotiv von "Die Fackel im Ohr", das Feuer, der Brand der Bibliothek, rückt sofort ins Zentrum. Damit verbunden ist vielleicht eine heimliche, vielleicht eine ironische Brechung, weil der Autor die Bücher über seine Figur stellt, so wie Peter Kien in seinem Alptraum (in dem Kapitel "Konfuzius, der Ehestifter") die Bücher und nicht die Menschen retten wollte.

Ihm sei zumute gewesen, fährt Canetti fort, als hätte er seine eigenen Bücher geopfert, und die ganze Welt, die Bücher aller Regionen und aller Denker, die der östlichen wie der westlichen Literaturen - "Das alles war niedergebrannt, ich hatte es geschehen lassen, ohne auch nur einen Versuch zu machen, etwas davon zu retten, und zurück blieb eine Wüste, es gab nun nichts mehr als Wüste, und ich selbst war an ihr Schuld".

Der Vorwurf, den Canetti gegen sich selbst erhebt, dass er mit "Die Blendung" einer zerstörerischen Kraft zur Entfaltung verholfen habe, verleiht dem Roman eine magische Grandiosität, und seinem Autor ebenso. "Denn es ist kein bloßes Spiel, was in einem solchen Buch geschieht, es ist eine Wirklichkeit, für die man einzustehen hat", fährt er fort - "Der Untergang war nun in mir angelegt und ich kam nicht von ihm los". Er empfindet nach dem Untergang Kiens die Bedrohung seiner selbst und darüber hinaus "die Bedrohung der Welt". Es herrscht Endzeitstimmung; Vulkanausbruch und Erdbeben drohen, seine Sätze werden zu "Kritzeleien an die Wände eines neuen Pompeji". Er weiß auch, dass mit dem Brand der Kien'schen Bibliothek seine anderen Romanprojekte verbrannt, dass alle anderen Figuren im Rauch des Bücherbrandes erstickt waren. Sich selbst sieht er in der Rolle des Schuldigen, des Brandstifters.

Man spürt diesen Seiten an, dass sie in der Retrospektive geschrieben sind, im Wissen um die großen Brände, den Bücherbrand von 1933 und die Weltbrände nach 1939. Elias nähert sich damit in seinem Kommentar der Rolle des alttestamentarischen Propheten, der das Feuer des Herrn verkündigt hat. Von der Bücherverbrennung der Nazis ist hier zwar noch nicht explizit die Rede, doch bald darauf, im Zusammenhang mit der Arbeit an seinem neuen Stück, der "Komödie der Eitelkeit", fällt das historische Stichwort:

"Die Dringlichkeit war groß, die Dinge in Deutschland gingen immer rascher weiter, aber noch immer hielt ich die Situation nicht für irreversibel. Was durch Worte im Gang gehalten wurde, konnte durch Worte aufgehalten werden. Ich hielt die Komödie, sobald sie abgeschlossen war, für eine legitime Entgegnung auf die Bücherverbrennung. Nun musste sie gespielt werden, überall, rasch [...]" - Hilde Spiel merkt hier in ihrem Exemplar von "Das Augenspiel" spöttisch an: "Megalomania".

Canetti beschreibt, dass nach der Beendigung des Romans die einzelnen Bilder von Matthias Grünewalds "Isenheimer Altar" wieder zu neuem Leben erwachen - auffällig übrigens, dass er zwar betont, das ganze Triptychon in seinem Zimmer in der Hagenberggasse an die Wand genagelt zu haben, aber in seinen Kommentaren mit keinem einzigen Wort den Auferstehungsflügel erwähnt. Noch einmal wiederholt er, dass er vom Gefühl geplagt worden sei, das Recht auf Bücher verloren zu haben: "Vielleicht hatte ich durch den Bücherbrand alles Alte wirklich zerstört. Scheinbar standen die Bände noch da, aber ihr Inhalt war versengt".

Das Thema der schuldhaften Verstrickung des Dichters wird dadurch verstärkt, dass er im Folgenden von Reaktionen anderer Leser auf "Die Blendung" berichtet. Die erste Leserin, Veza, habe um seine mentale Gesundheit gefürchtet und die Gefahr gesehen, dass er ganz in seinem Roman verloren gehe. Sie befürchtete, dass Elias zu tief hinabgetaucht sei in die Welt des Sinologen. Ihre erste Sorge sei es gewesen, dass er den Schluss des Romans wieder zurücknehmen werde, dass Georg umkehre, seinen Bruder im letzten Augenblick rette und dass nun der große Dialog der Brüder beginne.

Der Prophet Elias ist erschrocken über die bewahrheitende Kraft seiner Verkündigung. Aus Vezas Perspektive kann Canetti beschreiben, dass der Fluch des Buches über die Welt gekommen war, dass seine Prophezeiung sich bewahrheitet habe. Canetti schließt diese erste Leser-Episode mit der Schilderung eines Heilungsrituals: Er beschreibt, dass Veza nach dem Umzug in die Himmelstraße (in Grinzing) Briefpapier drucken ließ mit der Adresse "Am Himmel 30"; mit dieser hilflosen Beschwörung einer Himmelfahrt habe sie ihn, so legt der Autor nahe, aus der Welt des Romans retten wollen.

Der andere Leser, von dem er in "Das Augenspiel" berichtet, ist Hermann Broch, der ihn zu einer Lesung in der Volkshochschule Leopoldstadt überredet, die für Januar 1933 festgesetzt wird, ein historisches Datum also, mit dem die große Bücherverbrennung sich als Drohung verbindet - "eines aber wußte man bei aller Unbegreiflichkeit wohl: daß es nur in Krieg münden könne, [...] einen, der mit stolzem und gefräßigen Anspruch auftrat, wie die biblischen Kriege der Assyrer", schreibt Canetti. Broch liest das Roman-Manuskript und überfällt den Autor mit Fragen, die in ihrer Steigerung die Antworten vorwegnehmen: "Was wollen Sie damit sagen?" - "Wollen Sie einem angst machen?" - "Wollen Sie den Untergang?"

Hier wird der Vorwurf, dass der Prophet sich mit dem Untergang verbündet habe und daher Schuld auf sich lade, von außen wiederholt und damit noch bedrohlicher. Hanuschek merkt an, dass dieses Zwiegespräch (dessen Protokoll fünf Seiten umfasst), wohl erst aus späteren Briefen von Broch, die von Ende 1935 stammen, kompiliert worden sei.

Auch wenn in "Das Augenspiel" (so weit ich sehe) das Wort "Prophet" nicht fällt, wird hier die nur wenig verborgene Geschichte des Propheten Elias erzählt (die schon in der Schilderung des Justizpalastbrands ihren Anfang nimmt). Aber vor allem in den "Aufzeichnungen" beginnt bald eine umfassende und nicht mehr endende Kritik der Rolle des Propheten (in der sich wohl auch seine Distanzierung von Karl Kraus niederschlägt). In seinem Essay "Tagebücher" (1965) protokolliert Canetti ein inneres Zwiegespräch:

"Es ist vorgekommen, daß ich etwas Schreckliches vorausgesehen habe - in der Welt, meine ich -, das dann genau so eingetroffen ist. Ich hatte nichts Besseres zu tun, als es aufzuschreiben. Ich konnte es mir ja beweisen, es stand schon da, lange bevor es geschah. Wahrscheinlich wollte ich mir so ein Recht auf weitere Voraussagen zuschanzen. Ich setze die vernichtende Antwort meines Partners darauf hierher, sie ist wichtiger als die jämmerliche Eitelkeit der eingetroffenen Voraussage: 'Der Warner, der Prophet, dessen Vorausgesagtes eintrifft, ist eine zu Unrecht geachtete Figur. Er hat es sich zu leicht gemacht und sich von den Schrecken, die er verabscheut, überwältigen lassen, noch bevor sie eingetroffen sind. Er glaubt, dass er warnt, aber gemessen an der Leidenschaft seiner Voraussicht ist seine Warnung wertlos. Bewundert wird er für seine Voraussicht; aber nichts ist leichter. Je schrecklicher seine Voraussicht, um so eher wird sie wahr'".

Diese fortgesetzte Prophetenkritik, die den Hass auf Propheten verkündet und dessen erbarmungslose "Rechthaberei" anprangert - Canetti erwähnt den Propheten Jona, aber nicht Elias -, lässt sich als Gegenstimme und als Distanzierung vom eigenen Bildentwurf verstehen (erstaunlich, dass hier zwar von der Angst des Propheten vor seinem Amt die Rede ist, aber die näher liegende Angst vor der Prophezeiung ausgeklammert bleibt). Zugleich betont Canetti in den "Aufzeichnungen" aber auch die prophetische Rolle des Dichters: "Der Dichter ist wohl der Mensch, der, was früher war, spürt, um, was sein wird, vorauszusagen".

Der dritte Leser schließlich ist Abraham Sonne (i. e. Avraham Ben Yitzhak, 1883-1950), der einzige, dem Canetti Vernichtungsgewalt über seinen Roman zubilligt. "Hohe Instanz" heißt das Kapitel, in dem von Sonne als Leser und Exeget berichtet wird. Den Roman hatte Canetti ihm gewidmet mit dem Satz "Dr. Sonne, mir noch mehr", und er fährt auch weiter darin fort, den Namen der göttlichen Gestalt leuchten zu lassen: "ein so heiliges Wort wie Sonne [...] leuchtend, versengend, geflügelt, Ursprung und [...] Ende allen Lebens". Das Bindeglied zwischen diesem hohen Leser und dem Autor findet sich wiederum in einem Namen: Der Prophet Elias (das hatte Canetti schon als 4-Jähriger in Rustschuk erfahren) war mit einem feurigen Sonnenwagen zum Himmel aufgefahren. In der Feier des Namens Sonne erstrahlt auch der Prophet Elias, Nachfahre des Helios.

Fünf Wochen muss Canetti warten, bis Dr. Sonne ihm seine Beobachtungen anbietet. Kein Gespräch findet statt wie mit Broch, sondern Sonne hält eine Rede (von der hier nur Auszüge zitiert werden können):

"Dann sprach er zwei Stunden lang darüber, an diesem Nachmittag wurde von nichts anderem geredet. Er durchleuchtete den Roman und stellte Zusammenhänge her, von deren Vorhandensein ich nichts geahnt hatte. Er behandelte ihn wie ein Buch, das schon lange bestand und das auch weiter bestehen würde. Er erklärte, woher es kam und zeigte, wohin es führen müsse [...].
Er sprach, wie wenn er auf einer Entdeckungsreise wäre und nahm mich mit. Ich lernte von ihm, als wäre ich ein anderer, nicht der Schreiber; was er vor mich hinstellte, war so überraschend, daß ich es als Eigenes kaum erkannt hätte. Es war schon erstaunlich genug, dass ihm jede geringfügigste Einzelheit zu Gebote stand, als wäre es ein alter Text, den er vor Schülern kommentierte. Die Distanz, die er damit zwischen mir und dem Buch schuf, war größer als die der vier Jahre, die es als Manuskript bei mir gelegen hatte. Ich sah ein sinnvolles, bis in jedes Detail durchdachtes Gebilde vor mir, das seine Würde nicht weniger als seine Rechtfertigung in sich trug. Ich war fasziniert von jedem seiner Gedanken, der mich als Unerwartetes traf und hatte den einzigen Wunsch, dass es nie enden möge.
Nur langsam merkte ich, daß seine Rede auch von einer Absicht getragen war: er war sich klar darüber, dass das Buch ein schweres Schicksal haben würde und wollte mich gegen die Angriffe wappnen, die zu erwarten waren [...].
In den fünfzig Jahren, die seither vergangen sind, ist manches davon zur Sprache gekommen. In Aufsätzen und Büchern sind Dinge gesagt worden, die Sonne damals erklärt hatte. Es ist, als bestünde ein Reservoir der Geheimnisse, die sich in einem Buch verbergen und als würde allmählich aus diesem Reservoir geschöpft, bis schließlich alle Geheimnisse deklariert und verbraucht sind. Diesen Zeitpunkt fürchte ich, er ist aber noch nicht erreicht. Einen guten Teil des Schatzes, den mir Sonne damals gab, bewahre ich noch ungebraucht in mir und wenn ich, worüber manche staunen, bei jeder ernsten Reaktion noch immer mit Neugier erwidere, so hängt das mit diesem Schatz zusammen, dem einzigen in meinem Leben, den ich überschauen mag und bewusst verwalte. Die Vorwürfe, die mir auch heute noch von wütenden Lesern gemacht werden, berühren mich nicht wirklich [...], denn wie sollte ich ihnen erklären, dass Sonne mir damals dieses Böse abgenommen hat, indem er es vor meinen Augen aus allen Fugen und Ritzen des Buches herausgeholt hat und in einer rettenden Distanz von mir wieder zusammenfügte".

Canettis Diktion legt anfangs nahe, dass hier von Sonne ein heiliger Text, ein prophetisches Buch kommentiert wird, dass ein sakraler Akt der Auslegung stattfindet. Bedeutsamer scheint aber, dass der Autor in einem Akt der Objektivierung von aller Schuld freigesprochen wird, gerade auch vom Vorwurf der Verschwisterung des Propheten mit dem prophezeiten Untergang, wie ihn (in Canettis Rückblick) Broch hatte laut werden lassen. Der Interpret als "hohe Instanz" nimmt die ganze Bürde auf sich und rettet den Dichter, auch für die kommenden Jahre, vor seinem eigenen Werk. Was Veza Canetti in hilfloser Geste versucht hat mit der Beschwörung des Himmels, vollendet schließlich Dr. Sonne und heilt so den Autor. Er hat ihn der Bedeutung des Werks versichert und ihn zugleich gegen die drohenden Missdeutungen gewappnet. Und noch einmal unterstreicht Canetti, dass wir Philologen unsere Arbeit nicht getan haben.

Ich schließe mit einem knappen Blick auf die Schlussszene des Romans, in dem Peter Kien in lautes Gelächter ausbricht und in den Flammen seiner Bibliothek untergeht. Kiens Ambivalenz von Feuerangst und Brandstifterlust fällt am Ende des Romans zusammen, äußere und innere Masse werden eins. Das Schlussbild lässt sich lesen als eine Inszenierung und Erfüllung jenes prophetischen Traums eines Auto-da-Fés, der im dritten Kapitel des Romans protokolliert war, in dem die ganze Welt in Flammen aufgeht (Kien interpretiert ihn als Bedrohung seiner Bibliothek und sieht sich dadurch aufgefordert, Therese als Hüterin der Bücher zu bestellen). Die Schlussszene wie der Traum verweisen wieder auf den Propheten Elias, der nicht nur durch seine Himmelfahrt im Sonnenwagen mit dem Element des Feuers verbunden ist. Der biblische Elias, dessen "Feuereifer" gerühmt wird, hat seinen großen Auftritt bei einem Gottesurteil auf dem Berg Karmel, der erweisen soll, ob der Bauerngott Baal oder Nomadengott Jahwe der Wahre und Mächtige sei: "welcher Gott nun mit Feuer antworten wird, der sei Gott" (1 Könige 18, 24). Beteiligt sind auch noch vierhundert Propheten vom "Gott des Pfahls" oder "des Hains", wohinter sich Aschera verbirgt, deren Name im Alten Testament nach Kräften vermieden und meist durch "Pfahl" oder "Hain" ersetzt wird, da es sich um einen ekstatischen Fruchtbarkeitskult handelte; der heilige Pfahl ist Symbol der Göttin Aschera, und dass deren Priester "am Tische Jesebels essen", besagt, dass der Aschera-Kult von der Königin protegiert wird; im Verlauf der biblischen Legende ist von diesen Propheten aber nicht mehr die Rede (1 Könige 18, 19) - im "Buch der Könige" (2 Könige 23,6) wird der Aschera-Pfahl zu Staub verbrannt: nicht nur Bücher sind brennbar. Der Prophet Elias widersetzt sich damit der politischen Strategie des Königs Ahab (Achab), der mit religiösem Synkretismus Israeliten und Kanaanäer vereinen will. Nachdem Baal auf das Opfer und den Tanz seiner Priester nicht reagiert, baut Elias, der gegen die beiden (oder die drei) Priesterheere als Einziger und Auserwählter agiert, aus 12 Steinen, die für die 12 Stämme Israels stehen, einen Altar, auf den er ein Opfertier legen und mit Wasser begießen lässt (auch Kien vergießt vor seinem Selbstopfer Wasser). Auf sein Gebet hin fällt Feuer vom Himmel: "Da fiel das Feuer des Herrn herab und fraß Brandopfer, Holz, Steine und Erde, und leckte das Wasser auf in der Grube". Danach befiehlt der Prophet, die Baalspriester zu ergreifen; die 450 Propheten des Baal werden von ihm eigenhändig getötet, erzählt das "Buch der Könige". Später wird der Himmel schwarz von heraufziehenden Wolken, und der erbetene Regen kommt, der die Dürre beendet. Um dem Zorn der Königin Jesebel zu entgehen, der Anhängerin des Aschera-Kultes, flieht er danach in die Wüste, wo er 40 Tage und Nächte fastet und wo Jahwe ihm im Flüstern eines Windes erscheint.

Elias ist nicht nur einer der "Ungestorbenen" der Bibel, die mit unversehrtem Leib in den Himmel auffahren (aus dieser Legende mag sich die Energie von Canettis Kriegserklärung gegen den Tod speisen), sondern er vermag auch Menschen vom Tod auferstehen zu lassen und anderen, wie Jesebel, Ahab und dessen Sohn Ahasja, als Strafe den Tod zu prophezeien (1 Könige 21, 19-23). Canetti, der jüdische und biblische Legenden über den Propheten Elias sammelte, hat auch noch auf eine weitere Rolle des Propheten hingewiesen - auf die eines Chronisten: "Danach wird er erscheinen und zum zweiten Mal entschwinden, bis Gog und Magog kommen werden. In der Zeit aber, die dazwischen liegt, schreibt Elias die Geschichte aller dieser Geschlechter auf".

Entsprechend der zentralen Rolle, die der Prophet Elias im Alten Testament und in apokryphen Schriften als Nachfolger von Moses und Vorgänger von Christus spielt (z. B. im Nikodemus-Evangelium), sind seine Spuren auch in späteren Dichtungen zu finden. In dem althochdeutschen Gedicht "Muspilli" (aus dem 9. Jahrhundert) verbinden sich Bilder der germanischen Mythologie mit biblischen und apokryphen Szenen. Im Kampf mit dem Antichrist wird der siegreiche Elias verwundet; sein Blut tropft auf die Erde, setzt sie in Brand und verursacht so den Weltuntergang: "Die Berge brennen, die Bäume verschwinden von der Erde, die Flüsse vertrocknen, [...] der Mond fällt und der ganze Erdkreis geht in Flammen auf", so wie in Kiens Alptraum die Blutstropfen die ganze Erde in Brand setzen.

Warum lacht Kien am Ende laut auf? Auf dem Gipfel seiner Verblendung wird er eins mit der Masse und wird in einem tödlichen erotischen Akt von der Masse seiner 25.000 bändigen Bibliothek verschlungen. Der alte Mythenspezialist weiß von der feurigen Verheißung einer Wiedergeburt, und dass Herakles sich auf dem Scheiterhaufen in einen Gott verwandelt, daran erinnert er sich im letzten Gespräch mit seinem Bruder. Er hat eine (Himmels-)Leiter in die Mitte des Zimmers gerückt und sich auf die sechste Stufe, die Stufe der Vollkommenheit gestellt (sechste Stufe: Salomo gehörte zu den Königen des Alten Testaments, die sich selbst als Sonnenkönige nach altem babylonischem Vorbild stilisierten; sechs Stufen ging es hinauf, entsprechend den sechs Planeten, und die Position des Königs war dann die siebente Stufe). Auch das apokalyptische Feuer in dem Muspilli-Poem hat läuternde Kraft; es ist ein Feuer der Reinigung, Zeichen des Neuanfangs und der Befreiung. Natürlich sind diese Bilder, in denen Zerstörung und Wiedergeburt verbunden sind, Canetti vertraut wie wenigen anderen, aber in seinem großen Roman-Kommentar mussten sie unter der Last der historischen Entwicklung und der suggestiven Kraft der Prophetenrolle einer Eindeutigkeit weichen, der die Ausblendung des Auferstehungsbildes von Grünewalds Isenheimer Altar entspricht. Dort schwebt der Auferstandene wie eine Sonne am Himmel.