Verliebt in Hogwarts

J. K. Rowling veröffentlicht den sechsten Band der Harry Potter-Serie

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wollte man den neuen Band der Harry Potter-Saga rezensieren, müsste man wohl folgende Punkte abarbeiten. Erstens: Man müsste vermutlich noch einmal auf die interessante Geschichte J. K. Rowlings eingehen, die es, alleinerziehend und von Sozialhilfe lebend, schaffte, ein Buch zu schreiben, das innerhalb kürzester Zeit die Bestsellerlisten stürmte und dessen Fortsetzungsbände sie zu einer der reichsten Frauen der Welt machten.

Geschickt überleitend müsste man dann wohl - zweitens - erzählen, dass Rowlings Reichtum sich mittlerweile nicht mehr nur aus dem Erlös der Bücherverkäufe speist, sondern vor allem aus dem Merchandising - von Harry Potters Zauberstab bis zu Harry Potter-Bettwäsche ist alles erhältlich, was das Herz der Fans begehrt. Wollte man eine kritische Stimme erheben, könnte man hier zum Beispiel anmerken, dass ein gewisser, anonym bleibender Internetbuchversand dem neuen Harry Potter-Band gleich eine kleine Broschüre beilegte, um geneigtem Leser (und Käufer) jene Produkte ans Herz legen.

Man spräche also (drittens) wohl oder übel von Verfilmungen und Verkaufsstrategien und bemerkte, dass jeder neue Band der Serie immer höhere Vorverkaufszahlen erreicht. Man könnte zu bedenken geben, dass diese vermutlich auch durch die Spekulationen in die Höhe getrieben werden, die inzwischen wohl zum Vorlauf der Veröffentlichung gehören und die im besten Fall auf Andeutungen der Autorin basieren. Mehr Tode, so hatte J. K. Rowling etwa angekündigt, werde es geben - die Welt des Harry Potter solle (noch) dunkler werden.

Man würde vielleicht - viertens - darüber sinnieren, welche Rolle das Internet mit all seinen Foren und Harry Potter gewidmeten Webseiten dabei gespielt hat, dass die Potter-Mania so gut funktioniert, gestünde dann zum Beispiel, dass man selbst sich vor Veröffentlichung des Buches in einigen Foren herumgetrieben hat, um zu erfahren, was denn das Potter-Fandom denkt und glaubt, und man verliehe seinem Staunen darüber Ausdruck, welche Mühe sich die Liebhaber des Zauberlehrlings machen (hier könnte man die Goethe-Anspielung gleich mitverpacken!), um ihren Lieblingsbüchern und dem Idol Rowling ein Denkmal zu setzen. Dort werden liebevoll Lücken aufgedeckt (und fantasiereich gefüllt), könnte man anmerken, die geneigter Rezensentin nicht einmal auffallen würden, wenn sie mit der Nase darauf gestoßen würde. Dort werden Hypothesen aufgestellt, deren Komplexität ihre Kenntnisse weit übersteigen, dort spekuliert die Potter-Welt seit Monaten über den Halbblutprinzen und den wohl unvermeidlichen Tod einer ihrer geliebten Figuren aus der Welt der Zauberer.

So weit gekommen, könnte man nun (fünftens) den Umweg darüber machen, für den hoffentlich noch immer folgenden Leser besagter fiktiver Rezension die Bezüge zu anderen fantastischen Romanen ("Herr der Ringe" und Co.) herzustellen und über den glücklichen Umstand berichten, dass dank Frau Rowling die Kinder wieder (freiwillig!) lesen.

Hätte man sich an diesen Punkten allerdings abgearbeitet, könnte man sich endlich (sechstens) dem Inhalt des Buches widmen - und dabei käme man sich dann ebenso weitschweifig und langweilig vor wie der Lehrer für History of Magic in Hogwarts. Um die Geduld der Leser von literaturkritik.de also nicht allzu stark zu strapazieren, überspringt die Rezensentin Punkt 1 bis 5, sie unterdrückt auch ihre Spekulationen darüber, für wen die Kritik eines Potter-Bands überhaupt geschrieben wird, wenn ein Großteil des Publikums sich bereits entschieden hat, das Buch zu lesen, es gelesen hat oder entschieden davon ausgeht, sich nie von der Hysterie über den jungen Zauberer anstecken zu lassen und landet schließlich - ausnahmsweise nicht im Privet Drive, wo die meisten der anderen Romane begonnen hatten, sondern im Büro des Premierministers von England. Man kann sich förmlich Tony Blair vorstellen (auch wenn er namentlich nicht genannt wird), wie er sich, auf den Telefonanruf des Präsidenten eines weit entfernten Landes ("the wretched man") wartend, Sorgen darüber macht, wie die Opposition es auslegen wird, dass die Regierung nichts gegen zusammenfallende Brücken, unaufgeklärte Morde und Hurricans im West Country unternehmen kann. Nur, um dann plötzlich vom Minister of Magic überrascht zu werden, der nicht nur klar stellt, dass diese Unglücksfälle Folgen des Kampfes zwischen guten und bösen Zauberern sind, sondern dem verwirrten Premier ("But for heaven's sake - you're wizards! You can do magic!") auch auseinander setzt, dass selbst ein Magier dann machtlos ist, wenn er einem ebenbürtigen Gegner gegenüber steht: "The trouble is, the other side can do magic too, Prime Minister." Der Rest des Romans wird unter dem Zeichen dieses Eingeständnisses von Ohnmacht stehen.

War das Thema des letzten Bandes noch das Heranwachsen der jungen Helden, ihre Liebessorgen und -nöte gewesen, so scheint der Gegenstand dieses Bandes das Alter zu sein, das Versagen und der Verfall. Dumbledore, der bereits im letzten Roman zugegeben hatte, einen Fehler gemacht zu haben, indem er Harry nicht von Anfang an die Wahrheit sagte ("For I see now that what I have done, and not done, with regard to you, bears all the hallmarks of the failings of age. Youth cannot know how age thinks and feels. But old men are guilty if they forget what it was to be young... and I seem to have forgotten, lately..."), scheint diese Schwäche zwar nun verstärkt wieder gutmachen zu wollen, indem er Harry mit der Vorgeschichte des jungen Tom Marvolo Riddle (der später anagrammatisch zu Lord Voldemort mutieren wird) konfrontiert. Doch auch der bisher wie ein Fels in der Brandung wirkende Zauberer muss seine Schwächen offen preisgeben. Als Harry den Leiter der Zauberschule zum ersten Mal trifft, ist dieser verletzt: "His hand was blackened and shrivelled; it looked as though his flesh had been burned away." "Reactions not as they were", wie der neue Lehrer für Zaubertränke, Professor Slughorn, anmerkt.

Die Liebhaber von Harry Potter, die die Erzählmuster, denen Rowling folgt, genau kennen, werden von diesem Band vielleicht etwas befremdet sein. Denn abgesehen von der erschreckenden Gebrechlichkeit Dumbledores ändert sich noch so einiges: Die Dursleys haben nur wenige Seiten Zeit, sich als herzlose Verwandte zu präsentieren, die Harry am liebsten sofort aus dem Haus werfen würden. Professor Snape erhält endlich den Status, den er sich bisher immer vergeblich gewünscht hatte - er wird Professor für Defence against the Dark Arts. Der junge Zauberschüler selbst verbringt jedoch viel weniger Zeit im Klassenzimmer als jemals zuvor; die liebevoll ausgestaltete Schule ist Staffage, auch Harry Potter-Regulars wie Professor McGonagall, Professor Flitwick und sogar Hagrid werden so zu Teilen des Hogwarts-Hintergrundbildes degradiert. Rowling konzentriert sich auf das Wesentliche - selbst die unvermeidlichen Quidditch-Spiele reduzieren sich auf ein Minimum.

Dringlicher ist wohl die weitere Charakterisierung der Hauptfigur: Harry hat offensichtlich seine innere Balance nach dem Tod seines Paten wiedergefunden (entweder das oder die CapsLock-Taste auf J. K. Rowlings Tastatur funktioniert nicht mehr), denn er beschränkt sich nun darauf, seiner gelegentlichen Frustration durch bissige Bemerkungen Ausdruck zu verleihen. Aufmüpfig und abenteuerlustig ist er zwar immer noch, beweist ansonsten aber wieder die Qualitäten, die ihn Prä-"Order of the Phoenix" so liebenswert gemacht hatten: Großmut, Fürsorglichkeit und einen erfrischenden Mangel an Arroganz.

Störend sind eher die häufigen Verweise darauf, wie groß Harry und seine beiden Mitstreiter, Ron und Hermione, nun geworden sind (also die Anspielungen darauf, dass man neue Roben kaufen muss, die Tatsache, dass der Invisibility Cloak die Schuhe nun nicht mehr ganz bedeckt etc.) und - immer noch oder schon wieder - die Obsession der drei mit ihrem Liebesleben, das die Rezensentin nicht teilt. Die Hinweise auf die "richtigen" Pärchen, die Rowling durch die vergangenen fünf Bände hinweg lieferte, waren so zahlreich, dass es nun kaum noch überrascht, wenn besagte am Ende endlich zueinander finden. Eher verwundert es möglicherweise, wenn der Held die Freundin schließlich verlässt, um sich nicht verwundbar zu machen.

Rowling hätte sich auf ihre Fähigkeit verlassen können, die Figuren durch ihre Taten zu kennzeichnen - dass die Hauptfiguren in der Welt des Harry Potter nicht nur größer, sondern auch älter und auch reifer werden, beweisen sie mehr durch ihre Ausdrucks- und Handlungsweise als durch dauerndes Knutschen im Aufenthaltsraum.

Der sechste Band ist in weiten Teilen augenscheinlich eine Vorbereitung für das Zusammenführen der Erzählstränge in Band sieben - hier wird einiges richtig gestellt, neue Informationen lassen alte Gewissheiten in neuem Licht erscheinen, frische 'plot devices' tauchen auf. Schade nur, dass Rowling zur Einführung dieser Erklärungen nichts Besseres eingefallen ist, als Harry durch die Benutzung des 'Pensieve' in die Erinnerungen anderer einzutauchen zu lassen. So erreicht sie zwar eine gewisse Vielstimmigkeit und kann die Aufklärung einiger Rätselhaftigkeiten bequemerweise von Kapitel zu Kapitel mit dem Argument hinausschieben, dass das Nacherleben verschiedener Ereignisse Zeit beansprucht, die die Protagonisten eben nicht immer haben, doch die Rückblenden wirken, auf diese Weise eingearbeitet, zuweilen etwas gezwungen, zumal die Handlung darüber ins Stocken gerät.

Rowling scheut sich dabei jedenfalls nicht vor großen Worten: Die Liebe, die schon seit mehreren Bänden als die Kraft propagiert wird, gegen die selbst die Magie machtlos ist. Die Seele, die zersplittert, wenn man zum Beispiel einen Mord begeht. Dies klingt ein wenig pathetisch, und das ist es vielleicht auch - man könnte der Autorin vorwerfen, ein allzu klischeehaftes Bild der Welt zu zeichnen, in der Gut gegen Böse kämpft und in der die Gegner vorerst klar erkennbar sind. So sehr man auch über den Versuch spotten mag, Freundschaft und Liebe, Tapferkeit und Opferbereitschaft als Heilmittel gegen das in Rowlings Welt zumindest scheinbar ganz und gar nicht diffuse Böse zu erklären und so sehr man auch die Gefahr solch simpler Lösungen für (im wahren Leben) doch sehr komplexe Probleme betonen möchte: Zynismus war nie eine Sache der J. K. Rowling.

Was die Autorin kann, ist seit 1997 alle paar Jahre einen spannenden Roman zu veröffentlichen, der weltweit von Kindern und Erwachsenen gelesen wird, in dem es immer wieder fantasievoll beschriebene Kleinigkeiten zu entdecken gibt, die den Charme dieser neuen Zauberwelt ausmachen, und der vor Ironie und Anspielungen strotzt. Ihre große Kunst ist es, dabei trotzdem die Kontinuität und das 'große Ziel' im Auge zu behalten, ihre Figuren psychologisch realistisch zu konstruieren und deren Adoleszenz leicht verfremdet, aber umso nachvollziehbarer und (paradoxerweise) klarer zu schildern.

Dieser Band endet in einem Cliffhanger. Ob im finalen Kampf tatsächlich eine der bisher eher doppelgesichtig anmutenden Figuren ihre wahren Intentionen aufdeckt oder ob auch dies nur eine weitere Finte Rowlings ist, der es immer wieder gelingt, negativ gezeichnete oder unsympathische Figuren zu rehabilitieren oder zumindest ambig zu halten, wird sich erst in zwei oder drei Jahren herausstellen, wenn der letzte Band der Serie erscheint. Sicher ist jedoch: Nachdem der 'Sieg' über die Pläne Voldemorts den Helden zum wiederholten Male nicht nur Kraft, sondern eine geliebte Person gekostet hat, tritt Harry der Welt gestärkt entgegen. Die Geborgenheit, die die steinerne Massivität der Zauberschule und die ebenso steinern scheinende Autorität Dumbledores bot, die Sicherheit, die in Rowlings Romanen Familie, Freunde und Überzeugungen lieferten, werden langsam immer mehr durch Selbstsicherheit ersetzt: ein Loslösen, das auch ein Erwachsenwerden bedeutet. Im nächsten Schuljahr, so kündigt Harry an, wird er nicht mehr nach Hogwarts zurückkehren, sondern sich ganz dem Kampf gegen seinen Erzfeind widmen. Seine Freunde (und die Fans) werden ihn begleiten.

Man darf gespannt auf den fulminanten Schlussakt sein.

Titelbild

Joanne K. Rowling: Harry Potter and the Half-Blood Prince.
Bloomsbury Publishing, London 2005.
26,30 EUR.
ISBN-10: 0747581088

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