Ein fauler Handel

Caroline Arni untersucht die Krise der Ehe um 1900

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die ideal Ehe existiert vielfach in der Natur", dozierte ein gelehrter Mensch namens Arnulf Rau im Jahre 1899. "Schauen sie sich den Gockel auf dem Hühnerhof an - da sehen Sie sie. Dieser Stolz! Diese Würde!" schwärmte er und kam auf "die stumpfsinnige Zufriedenheit, diese[n] gackernde[n] Eifer der Pflichterfüllung" der Hennen zu sprechen, von denen er nicht weniger angetan war. "Da", schloss er seinen Vortrag, "haben Sie Familienglück, Natur und individuelle Freiheit". Derlei Ausführungen konnten schon damals nicht unwidersprochen bleiben, und so nahm seine Gattin den Herrn schließlich mit der Erklärung in Schutz, er habe doch nur sagen wollen, dass "die Tragödie der modernen Ehe" ihre Ursache darin habe, "daß der Mann im wesentlichen Gockel geblieben ist, der größte Teil der Frauen dagegen sich vom Huhn soweit entfernt haben, wie ungefähr der Mensch vom Affen". Bei Herrn und Frau Rau handelt es sich ebenso wie bei der gesamten Zuhörerschaft der in einen kleinen Disput mündenden Rede um Figuren aus Ernst von Wolzogens satirischem Roman "Das dritte Geschlecht".

Reale Frauen dachten um 1900 über Familienglück, ideale Ehe und deren Natur oft ganz anders als der fiktive Herr Rau. So konstatierte die Ärztin Th. Vortmann wenige Jahre vor dem Jahrhundertwechsel, dass die Ehe kein Naturgesetz sei, sondern ein "menschliches Machwerk", das einem "Kaufvertrag" gleiche, bei dem der Mann als Käufer und die Frau als "Waare" auftrete. Ähnlich kritisch äußerten sich die Feministinnen Hedwig Dohm und Grete Meisel-Hess. Letztere sprach Frauen und Männer gleichermaßen von jeglicher Schuld an "den vielen zerstörten glücklosen Ehen" frei. Die wahre Schuldige sei vielmehr die Institution der Ehe selbst. Dohm hob die juristische Seite hervor und wies auf die "mausefallenähnliche Architektur des Eherechts" hin: "Kaum sind die Angelockten drinnen, schwupps fällt die Klappe zu." Dohm und Meisel-Hess, zwei Stimmen von vielen, die Caroline Arni in ihrer an der systematisch-rekonstruktiven Hermeneutik orientierten Studie zur die Krise der Ehe um 1900 zitiert.

Den Quellenkorpus der historischen Untersuchung bilden die Dossiers der nicht weniger als 479 Prozesse, die das Scheidungsgericht des Amtsbezirks Bern zwischen 1912 und 1916 zu verhandeln hatte. Dieser Zeitraum bot sich insbesondere aufgrund der "ausserordentliche[n] Qualität" der Dossiers an, die nur aus diesen Jahren vollständig erhalten geblieben sind, während vor 1912 und nach 1916 nur die Gerichtsprotokolle aufbewahrt wurden. Zudem fielen die in diesen Jahren geführten Prozesse sämtlich unter die Geltung ein und desselben Gesetzes, derjenigen des 1912 in Kraft getretenen Schweizerischen Zivilgesetzbuchs (ZGB) von 1907.

Ebenso hervorragend wie die Quellenlage ist die quellenkritische Methode, mit der Arni sich ihr nähert. Weit davon entfernt, in den Dossiers und Akten eine "unmittelbare Wirklichkeit" zu suchen, weiß sie, dass diese die Wirklichkeit immer schon deuten, interpretieren und mit Sinn versehen. Nur einmal verlässt die Autorin ihr guter quellenkritischer Geist, indem sie die Münchner Bohémienne Franziska zu Reventlow von einem vermeintlich realen Kaffeehausgespräch "berichte[n]" lässt, tatsächlich aber aus deren Roman "Amouresken. Von Paul zu Pedro" (1912) zitiert.

"[I]m Sinn des 'theoretical sampling'" wählt Arni vier beispielhafte Scheidungsprozesse aus und unterzieht sie einer "eingehende[n] Rekonstruktion". Einige weitere Fälle werden kontrastierend herangezogen. Die Ehen der vier zentralen Prozesse entstammen den vier die damalige Berner Gesellschaft prägenden Milieus: dem Bürgertum, der Arbeiterschaft, der kaufmännischen Mittelschicht und schließlich den Kreisen sozialistischer Intellektueller, aus deren Umfeld ein Beispiel ausgewählt wurde, weil in ihnen "die um die Jahrhundertwende virulente, gegen das normativ hegemoniale Ehemodell gewendete Konzeption einer egalitären Geschlechterbeziehung entworfen, diskutiert und praktiziert wurde".

"[D]ie eigentliche Kernproblematik" des schweizerischen Eherechts im untersuchten Zeitraum bestand der Berner Soziologin zufolge darin, dass es die Ehe als eine "prinzipiell auf Lebenszeit eingegangene Gemeinschaft unter männlicher Autorität" verstand, die eine strikte geschlechtsspezifische Arbeits- und Aufgabenteilung zwischen dem "männlichen Ernährer" und der "weiblichen Gattin, Mutter und Hausfrau" zu einer Zeit vorsah, in der immer mehr Frauen begannen, sich von der Vorherrschaft des Mannes zu emanzipieren. Ein Ehegesetz, dass den Mann zum "Haupt" der ehelichen Gemeinschaft bestimmte, "relativiert[e]" den Anspruch der Ehefrauen auf Individualität, schreibt die Autorin zurückhaltend.

Deutlichere Worte findet sie dafür, dass sich die "Identifizierung der gemeinschaftlichen mit den ehemännlichen Interessen" durch das gesamte Ehe- und Scheidungsrecht des ZGB zieht, in dem der Mann als Mensch mit dem Allgemeinen und die Frau als Frau mit dem Besonderen identifiziert werde. Wie die Autorin zeigt, schreibt das Ehe- und Scheidungsrecht des ZGB den gesellschafts- und geschlechterpolitischen "Ort und Handlungsspielraum" der Frauen "im Sinn einer reduzierten Individualisierung und gegen emanzipative Ansprüche" fest. Doch was um und nach 1900 als Krise der Ehe thematisiert wurde, war Arni zufolge tatsächlich eine Krise der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt. "Wer sich die Ehe vornimmt, handelt sich die Welt ein", lautet denn auch ihr lapidares Fazit.


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Caroline Arni: Entzweiungen. Die Krise der Ehe um 1900.
Böhlau Verlag, Köln 2004.
415 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 341211703X

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