Ein frisches Bier bei Herrn Pryl
Mit Martin Fahrner debütiert ein feinfühliger Erzähler und ermöglicht Einblicke in drei böhmische Generationen
Von Volker Strebel
Von Friedrich Nietzsche stammt die Bemerkung, dass die Geschichte auf Taubenfüßchen dahergetrippelt käme. Man könnte diese Beobachtung auch auf die tschechische Prosa anwenden, deren Texte nach Erscheinen immer wieder unterschätzt wurden, was sich am Beispiel des braven Soldaten Schwejk von Jaroslav Hašek exemplarisch zeigen lässt. Die sanfte Wucht dieses freundlichen Anarchisten zeigte sich erst nach einer gewissen Verzögerung.
Erstmalig wird in deutscher Sprache ein Roman des 1964 in Gablonz an der Neiße geborenen Martin Fahrner vorgestellt. Es ist ein Roman, der sich aus 35 Geschichten, Anekdoten, Erinnerungen und Schwänken zusammenfügt. Mit scheinbar leichter Hand erzählt, erkennt der Leser erst im Laufe des Erinnerten das versteckte Ornament einer raffinierten Komposition.
Fahrner ist kein Wortmagier und auch kein Postmodernist, sondern er erzählt auf traditionelle Weise und mit eindrucksvoller Geste in der besten Tradition eines Ivan Klíma oder eines Jaroslav Putík. Bemerkenswert ist Fahrners feines Gespür für Gesten und sein Sinn, das Wahrgenommene in sensibler Weise zu benennen. Somit wird ein ungewöhnlicher Familienroman ausgebreitet, oder, noch deutlicher: Martin Fahrner berichtet von sich selbst, wenn er von der Familie Steiner erzählt. Der Vater, der als Schüler wegen seines deutschen Namens lange Zeit ohne Banknachbar saß, bildet einen heimlichen Mittelpunkt dieser bilderreichen Erinnerungen. Zu Zeiten der Kindheit des Erzählers war der Vater ein bekannter Fußballspieler; und seine unnachahmliche Geste, nach einem erfolgreichen Torschuss die Hand zu heben beeindruckte sein Söhnchen sehr. Es wuchs zumal mit der Gewissheit auf, dass letztendlich das Gute siegen wird.
Den Wunsch des Vaters, ebenfalls ein guter Fußballer zu werden, erfüllte der junge Ich-Erzähler nicht. Aber als Fahrradfahrer, leidenschaftlicher Bergsteiger und später als Theaterarbeiter hat er sich den Blick auf das Detail, den Wert der Überschaubarkeit bewahrt: "Wir sind alle Reisende, die einen Punkt suchen, den sie fixieren können, bis sich vor ihren Augen der weite Himmel auftut."
Im Laufe seines Lebens und unter Berücksichtigung des Erlebten und Berichteten seines Vaters und Großvaters versteht der junge Ich-Erzähler, dass sich unter verschiedenen Bildern und Masken der so genannten Realität die Dinge wiederholen und überschneiden. Bestimmte Grundmuster beherrschen die Wirklichkeit und sie variieren lediglich in der Sicht des jeweiligen Betrachters. So kann man sich entweder bei Herrn Pryl in der Gaststätte "Im Tunnel" ein frisches Bier zapfen lassen oder aber auf dem Spielfeld wieder einmal das Gute siegen lassen.
Auf tragische Weise wird der Vater vom Inbegriff eines Siegertypen zum Invaliden. Der Oberarzt als Fußballfreund glaubt allerdings an die schier aussichtslose Operation, "weil er ihn einst gesehen hatte, wie er nach einem furchtbaren Treffer ins Gesicht auf allen Vieren im Torraum herumkroch und seine eigenen Zähne aus dem Gras aufsammelte und in die Taschen seiner Turnhose steckte".
Tragisch ist auch des Vaters nach wie vor ungezügeltes Temperament, das ihn während des Fernsehprogramms immer wieder auf den Balkon seiner Plattenbauwohnung drängt, um lautstark seinen Unmut in die sozialistische Welt hinauszurufen.
Die Welt der Geschichte und der Politik wird in dieser Form von Idylle nicht ausgeblendet, sie erscheint lediglich unter anderem Vorzeichen. Es wird nicht berichtet, wie die Familie Steiner den Zweiten Weltkrieg, den Prager Frühling von 1968, den real existierenden Sozialismus oder die Samtene Revolution vom November 1989 erlebte. Genau umgekehrt werden die Einbrüche dieser Ereignisse in das Leben einer Familie angedeutet. Ein Unterschied, der die Schwerpunkte des Berichteten gehörig zurechtrückt.
So einfühlsam, wie der Ich-Erzähler Steiner über seine eigenen Kinder schreibt, so betörend erzählt er in einer kurzen Sequenz die Geschichte seines deutschen Großvaters, der sich auf seine alten Tage noch nützlich machen wollte. Zusammen mit seiner Frau flocht er aus Weidenruten Körbe, "so daß sie sich gelegentlich mit den Köpfen berührten, einige Jahre lang". Und dann stießen die beiden Köpfe wieder einmal zusammen und "Opa lächelte und legte Oma seinen Kopf auf die Schulter". Wenige Worte später endete dieser Einwurf mit dem Satz "und Opas Seele schwebte über ihnen".
Eine gelungene Übersetzung verhilft Martin Fahrner zu einem eindrucksvollen Debüt vor deutschem Lesepublikum.