Wie Aberglauben und Vorurteil über die Vernunft triumphieren

Die erste vollständige Übersetzung von Théophile Gautiers Novelle "Jettatura"

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Théophile Gautier (1811-1872) galt seit dem 1835/36 erschienenen Roman "Mademoiselle de Maupin" (bzw. der Vorrede dazu) als Hohepriester des romantischen l'art-pour-l'art. Ihn interessierten angeblich nicht die Begebenheiten um Monsieur Coquelet, Monsieur Pipelet oder Monsieur Tout-le-monde, sondern nur die Mysterien der Schönheit. Über die Frauen auf einem Gemälde des irischen Malers Daniel Maclise schrieb Gautier einmal, sie entstammten "zwar nicht der Wirklichkeit", aber ihre "Unechtheit ist uns allemal lieber als die Faksimiles der Daguerrotypie". Gautiers Muse bewohne "eine ätherische Welt", meinte Baudelaire.

Immer "ätherischer" wird auch die Schönheit der jungen Engländerin Alicia Ward in Gautiers Novelle "Jettatura" (1856). Alicia leidet an "keiner bestimmten Krankheit", sondern an romantischer Lungenschwindsucht. "Durch das Leiden verlor Alicias so vollkommene Schönheit ihren irdischen Charakter; die Frau war schon fast verschwunden, um dem Engel Platz zu machen: Ihr Körper war durchscheinend, ätherisch, leuchtend, ihre Seele schimmerte wie die Flamme einer Alabasterlampe. In ihren Augen lag die Unendlichkeit des Himmels und das Funkeln der Sterne; kaum daß sich noch ein Lebenszeichen auf ihren blutroten Lippen zeigte."

Gautiers Beschreibung dieser femme fragile klingt auf den ersten Blick so kitschig wie in zahllosen späteren Machwerken des fin-de-siècle; doch in Gautiers Erzählung wird der Kitsch dadurch aufgefangen, dass sich Alicia selbst über solche Schwärmerei lustig macht. Denn sie ist "Protestantin, erzogen in großer geistiger Freiheit und Vorurteilslosigkeit"; sie liebt die "Vernunft" über alles, und sie ist eine heitere Spötterin. Nicht wahr, sagt Alicia zu ihrem Verlobten Paul d'Aspremont, "was Ihnen gefallen hat, war mein blasses Gesicht, meine durchscheinende Haut, meine ossianische und ätherische Anmut". Ihr "Leiden" habe ihr "einen gewissen romantischen Reiz" gegeben, der sich nun angesichts ihrer "verhängnisvollen bürgerlichen Gesundheit" verflüchtigt habe: "Armer Paul, was für eine Enttäuschung! Sie verlassen eine Nixe, eine Elfe, eine Willi, und treffen bei Ihrer Rückkehr eine, wie Ärzte und Eltern sagen würden, wohlproportionierte junge Frau an! [...] Ich wiege sieben Unzen mehr als bei der Abreise aus England."

Tatsächlich ist Alicia seit ihrer Abreise aus England "eine rundliche, kräftige Bäuerin geworden", "von ihrer Mattigkeit genesen und vor Gesundheit strotzend". Paul d'Aspremont trifft seine Verlobte nach sechs Monaten durch äußere Umstände erzwungener Trennung in Neapel wieder, in dessen südlichem Klima sie ihre Lungenschwäche auf ärztliches Anraten hin scheinbar auskurierte. Alicias Ironie färbt sogar auf den Erzähler ab. So stellt er uns seine Heldin vor: "Sie besaß eine so helle Haut, daß Milch, Schnee, Lilien, Alabaster, Jungfernwachs und was den Dichtern sonst noch alles zum Vergleich mit einem makellosen Weiß dient, daneben gelb erscheinen, dazu kirschrote Lippen und kohlrabenschwarzes Haar." Ja, "über den Wangenknochen glühten ihre Backen in einem vorbildlichen Rosa, das so rein, so himmlisch war, daß es kein Maler je auf seiner Palette haben wird".

Die Ironie eignet auch der Struktur der gesamten Erzählung, denn je gesünder Alicia zu sein scheint, desto kränker ist sie in Wahrheit. Am Ende stirbt sie, in "ätherischer Vollkommenheit", wie der Erzähler nunmehr wieder anzumerken nicht vergisst, weil eine "Ader in ihrem Innersten" platzte, wie derselbe Erzähler den medizinischen Grund immerhin andeutet.

Alicias Umgebung aber interpretiert ihren Tod als Folge einer "jettatura", also als Folge eines "Bösen Blicks", der von den Neapolitanern dem Verlobten Paul d'Aspremont zugeschrieben wird, weil seine Augen ein wenig hervorstehen, weil er leicht schielt ("Augen, deren Blickrichtungen sich kreuzen"), und vor allem, weil er seine Stirn in Situationen, die ihn irritieren oder ärgern, so zusammenzieht, dass eine Stirnfalte in Form eines Hufeisens entsteht, was "seinem Gesicht einen teuflisch bösen Ausdruck gab". Das Tragische dieser Zuschreibung, mit der Paul d'Aspremont verschiedentlich konfrontiert wird, ist, dass er allmählich selbst daran zu glauben beginnt. Davon kann ihn auch die kluge Alicia nicht abbringen.

Um "den Anfängen dieser fixen Idee zu wehren", führt sie eine Begegnung mit Paul herbei, bei der sie ihn bittet, ihr "tief in die Augen zu sehen", um ihm zu beweisen, dass dieser "niederträchtige Aberglauben" ohne Belang sei. Leider platzt zufällig in diesem Augenblick die erwähnte Ader, so dass er - obwohl die "heldenmütige junge Frau" sich fast nichts anmerken ließ - im Folgenden einer der "Monomanie" gleichenden "Verstörtheit" erliegt, die ihn annehmen lässt, die Ursache aller Unglücksfälle in seiner näheren oder ferneren Umgebung zu sein.

Der Witz der Erzählung besteht nun darin, dass wir wissen, dass dies objektiv nicht wahr ist; dass wir uns aber zugleich der subjektiven Wahrheit der Protagonisten nicht entziehen können. Beide Wahrheiten werden in der Erzählung gegeneinander geführt und gleichzeitig plausibel gemacht. Die Aporie lässt sich natürlich nur tragisch lösen.

Der Zufall gewinnt in Gautiers Novelle schicksalhafte Qualität. Was in der Logik eine contradictio in adiecto wäre, geschieht hier. "Willkür und Zufall sind unbekannt im Reiche der Vorsehung", formulierte Boëthius, aber Gautier führt uns 1.300 Jahre später in der Novelle "Jettatura" vor, dass Zufall und schicksalhafte Notwendigkeit mitunter identisch sind.

"Gewiß, für das alles gab es eine rationale Erklärung, und bisher hatte sich Paul damit begnügt, doch seit der Lektüre von Valettas Buch schien ihm das Zufällige und Unvorhergesehene dieser Ereignisse durch etwas anderes begründet zu sein: Das Verhängnis, der Fascino, die Jettatura - sie mußten an diesen Unglücksfällen mitschuldig sein", überlegt sich d'Aspremont, nachdem er ein Buch über das Phänomen des Bösen Blicks gelesen hat. Das Medium der Aufklärung führt also zur Relativierung der Ratio - und genauso könnte es dem Leser Gautiers gehen, wenn er sich allzu sehr auf die Männer der Erzählung einlässt: Anders als die vernünftige Alicia sind ihr Onkel, ihr Verlobter und ein weiterer Anbeter zwar nicht fest überzeugt, aber doch ziemlich geneigt, metaphysische Nebenwirkungen des menschlichen Blicks anzunehmen.

Übrigens wie der Autor selbst, über den seine Tochter Judith Gautier verriet, dass er zeitlebens "allen Ernstes den 'Bösen Blick', den er für einen Art schädlichen Magnetismus hielt," fürchtete. Die Erzählung insgesamt aber lässt wenig Zweifel daran, dass es sich um ein volkstümliches Vorurteil handelt, das den "Verstand ins Taumeln" geraten lässt. Diese Konstruktion erinnert stark an die Erzählung "Der Sandmann" des von Gautier bewunderten deutschen Romantikers E. T. A. Hoffmann, in der an der Seite der vernünftigen Klara ihr Verlobter Nathanael allmählich dem "Wahnsinn" verfällt wie hier Paul d'Aspremont.

"Je nach Blickwinkel ist der Traum ebenso wirklich wie die Wirklichkeit", behauptet der Erzähler und offenbart damit ein Geheimnis der eleganten Novellistik Gautiers: Noch das Unwahrscheinlichste wird mit derselben Selbstverständlichkeit beschrieben wie die Realität. Und umgekehrt widmete Gautier im Gegensatz zu seinem Protagonisten, der seiner Umgebung "kaum einen Blick" gönnt, dem "lebendigen und pittoresken Treiben" auf den Uferstraßen Neapels die gleiche Aufmerksamkeit wie den Abgründen des Traums: "schließlich soll man die Schauplätze der Handlung ausmalen, von der man erzählt."

"Jettatura" war im 19. Jahrhundert einer der bekanntesten Texte Gautiers. Gleichwohl war bisher nur die von Hans Henning von Voigt (genannt Alastair) 1925 vorgelegte und mehrfach nachgedruckte Übersetzung erhältlich, die aber, so Holger Fock, heutigen Ansprüchen an eine literarische Übersetzung "kaum" genügen könne, weil der frühere Übersetzer Gautier "seinen sehr eigenen Stil aufgepfropft" habe. Demgegenüber wollte Fock alle Manierismen vermeiden und "Gautiers Text mit einem möglichst großen Maß an sprachlicher Genauigkeit in ein modernes Deutsch" übertragen. Das ist ihm im Großen und Ganzen gelungen, auch wenn man gelegentlich stutzt, etwa bei einer Wendung wie: "aus Mangel an Reichtümern" (der einige Künstler zweiter statt erster Klasse reisen ließ); "leur peu de fortune" schrieb Gautier, und Voigt übersetzte: "ihres schmalen Beutels wegen". Focks merkwürdiger Plural klingt ganz und gar nicht nach modernem Deutsch, wo man einen Singular wie "Vermögen" oder "Geld" oder "Einkommen" erwarten würde. Und vielleicht ist Voigts "schmaler Beutel" der Situation der wenig begüterten Künstler-Bohème auf dem Dampfer ja doch angemessener. Oder im folgenden Kapitel: Sobald die Kutscher der neapolitanischen Kaleschen das Zeichen zur Abfahrt geben, glaube man, so Gautier, "que les chevaux vont s'évanouir et la voiture se dissiper en fumée comme le carrosse de Cendrillon lorsqu'elle revient du bal passé minuit, malgré l'ordre de la fée." Also dass die Pferde "zusammenbrechen" "würden [...] und der Wagen sich in Rauch auflösen wie Aschenputtels Kutsche, sollte sie den Anweisungen der Fee zum Trotz erst nach Mitternacht vom Ball zurückkehren", wie es bei Fock etwas ungenau heißt, während Voigt die indikativische Konstruktion des Originals wahrt: "daß die Pferde hinschwinden und der Wagen sich in Rauch auflösen wird wie Aschenbrödels Karosse, als sie nach Mitternacht erst dem Befehl der Fee zum Trotz den Ball verließ."

Meistens aber ist Focks Übersetzung tatsächlich genauer, vor allem, da manche Stileigentümlichkeiten Voigts heute sehr manieriert klingen. Zum Beispiel, weil er gern die Artikel weglässt und etwa schreibt: "wie künstlich sich bewegender Automat" für "comme un automate mû par des ressorts", was Fock nahezu wörtlich wiedergibt mit: "wie ein von Federkraft bewegter Automat". An der zuletzt genannten Stelle aus dem letzten Kapitel kann man, was die beiden Übersetzungen angeht, außerdem noch zwei weitere Dinge beobachten. Erstens: Voigt lässt mitunter ganze Passagen aus, zum Beispiel dieses Satzgefüge: "Il traversa le jardin d'un pas lourd comme celui des apparitions de marbre, sortit dans la campagne et marcha devant lui, dérangeant les pierres du pied, trébuchant quelquefois, prêtant l'oreille comme pour saisir un bruit dans le lointain, mais avançant toujours."

Zweitens: Auch Fock scheut sich manchmal nicht, einer interpretativen These zuliebe die Genauigkeit der Übersetzung hintan zu stellen. So beginnt die Übersetzung der zitierten Passage bei ihm: "Mit schweren Schritten ging er wie ein steinerner Gast durch den Garten und weiter geradeaus durch die Felder". Dazu merkt er an: "wie ein steinerner Gast: wahrscheinlich eine Anspielung auf Don Juan." In seiner Übersetzung ist dies eindeutig. In Gautiers Text ist aber von gar keinem steinernen Gast ("Le Festin de Pierre" lautet der angespielte Titel bei Molière) die Rede, sondern von Auftritten einer Marmorstatue; und das Standbild des Komturs, das in Mozarts "Don Giovanni" mit "donnerndem Fußtritt" (E. T. A. Hoffmann) erscheint ("Ta ta ta ta ta ta ta"), passt inhaltlich zu dem gebrochen in seinen Tod wankenden Helden der Erzählung überhaupt nicht. Wahrscheinlich spielte Gautier nur ganz allgemein auf das romantische Motiv der lebendigen Statue an, wenn er nicht konkret die "pas lourds" im Sinn hatte, mit der die Venus-Statue in Prosper Merimées "Vénus d'Ille" (1837) die Treppe hinaufsteigt, um den jungen Bräutigam zu ersticken - eine Statue, die in Merimées Erzählung zwar aus Bronze ist, in den von Gautier für sein Libretto "Giselle" (1841) benutzten "Elementargeistern" (1835) seines kurz vor der Publikation von "Jettatura" gestorbenen Freundes Heinrich Heine aber aus Marmor.


Titelbild

Théophile Gautier: Jettatura. Novelle.
Übersetzt aus dem Französischen von Holger Fock.
Dörlemann Verlag, Zürich 2006.
224 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 3908777216

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