Übersetzung als Bekenntnis
Jutta Golawski-Braungart begleitet Lessing in die Schule der Franzosen
Von Roman Luckscheiter
Wer nach Beispielen einer gemeinsamen europäischen Kulturgeschichte sucht, der findet in der Theatergeschichte der Aufklärung beredte Zeugnisse. Es ist faszinierend zu sehen, wie über Ländergrenzen hinweg beispielsweise Dramaturgien der Rührseligkeit entstanden, ob sie nun "sentimental comedy", "comédie larmoyante" oder wie bei Gellert "rührendes Lustspiel" getauft wurden. Dass sich solche Phasen der Gleichzeitigkeit des europäischen Geistes entfalten konnten, verdankt sich freilich intensiver Transferarbeit, bei der es vor allem darum geht, Rezeptionskapazität und Innovationsbedarf der eigenen Kultur richtig einzuschätzen. Die Bochumer Dissertation von Jutta Golawski-Braungart untersucht die Zeit nach dem europäischen Rührstück und zeigt, wie Lessing als Mittler französischer Dramatiker und Theoretiker fungiert hat, um die eigene Arbeit an der Theaterreform in Deutschland mit Vorlagen aus dem Nachbarland zu profilieren, zu untermauern, aber auch, um die eigene Theorie kritisch davon abzusetzen und so voranzutreiben.
Das Material der Aneignung bedurfte zunächst der Übersetung ins Deutsche. Hier macht die Autorin auf Lessings implizites Kriterium programmatischer Wertschätzung aufmerksam: Wurde, wie im Falle der "Réflexions Critiques" des Abbé Dubos, der gesamte Text (in diesem Falle des dritten Teils) übersetzt, so war davon auszugehen, dass Lessing inhaltlich in hohem Maße mit ihm übereinstimmte, hier: mit dem angebotenen Sensualismus stark sympathisierte. Ähnliches gilt für den in Frankreich stark kritisierten Diderot, dessen Theaterstück "Père de famille" und dessen Traktat "De la poésie dramatique" Lessing kurz nach Erscheinen ins Deutsche übertrug. Es war seine letzte Übersetzung und diente ihm, schreibt Jutta Golawski-Braungart, als eine Art Zusammenfassung moderner Theatertheorie mit Anschauungsmaterial. Wurden dagegen nur kleinere Auszüge aus französischen Schriften übersetzt, so war das meist als Zeichen dafür zu verstehen, dass Lessing sich hier nur holte, was er für eine kritische Argumentation gebrauchen konnte, etwa im Fall der Schauspielkonzepte von Chassiron oder Sainte Albine.
Strategisch raffiniert war diesbezüglich auch Lessings Umgang mit Corneille. Ein Vergleich zwischen dem Original und dem, was Lessing in die "Hamburgische Dramaturgie" übernahm, zeigt, wie Lessing Autoren zu instrumentalisieren wusste, um grenzüberschreitendes Einverständnis zu inszenieren. Durch Kürzung wirkt Corneilles Aristoteles-Interpretation, als wolle sie die Bedeutung der Katharsis im Drama ebenso in den Mittelpunkt stellen wie Lessing; die vollständige Passage bei Corneille belegt aber, dass dem die kathartische Wirkung gar nicht so wesentlich war. An anderer Stelle begibt sich Lessing in einen virtuellen Streit mit Corneille über die Frage, ob es um die poetische oder die moralische "Güte" der dazustellenden Charaktere gehen soll. Was in der Diskussion mit Mendelssohn und Nicolai zu keinem Ende geführt hatte, kann hier noch einmal durchgespielt werden mit dem zusätzlichen Reiz, dabei einen Franzosen belehren zu können. Auf derlei "Pointen" macht Galowski-Braungart immer wieder aufmerksam. Am Beispiel Diderots wird die Ambivalenz in Lessings Kulturtransfer noch einmal deutlich: Auch er wird als Streitpartner eingeführt, um mal "mit ihm", mal "gegen ihn" den ästhetischen und den vernünftigen Diskurs als "kommunikativen Prozess" vorzuführen.
Den Schwerpunkt hat die Autorin sinnvollerweise auf den interpretatorischen Gewinn der französischen Bezüge bei Lessing gelegt - was früher der Gegenstand der Einflussforschung gewesen wäre, deren Namen man heute tunlichst zu nennen vemeiden sollte, um nicht dem Verdacht der Unwissenschaftlichkeit zu unterliegen. Golawski-Braungart spricht denn auch an keiner Stelle von Einfluss, sondern von Leitfäden, an denen entlang Lessing mit seinen Figuren experimentiert. So kann sie zeigen, wie Diderots Tableau-Darstellungen Lessings erzieherischen Absichten entgegenkommen und entsprechend in "Emilia Galotti" zum Einsatz kommen. So gelangt sie außerdem zu einer aufschlussreichen Durchleuchtung von "Miss Sara Sampson" als "Erprobung und Modifikation der Überlegungen Riccobonis" - gemeint ist dessen Abhandlung "L'art du Theatre", die Lessing nicht nur als Regelwerk für Schauspieler, sondern auch als dramaturgische Handreichungen für den Dichter liest, der empfindende Figuren schafft. Ähnlich unbeachtet war in der bisherigen Forschung die Relevanz des Abbé Dubos, dessen Spuren in der "Laokoon-Schrift" bereits gesichert, für Lessings Theater- und Tragödienkonzeption aber erst im vorliegenden Band erschlossen wurden.
Die intellektuelle Dynamik, die inhaltlich wie strategisch dem Literaturimport innewohnt, macht Jutta Golawski-Braungart mit präzisen Beispielen und klaren Thesen bewusst. Dabei beachtet sie sowohl die praktische Ebene - in einem Exkurs zu Lessings Übersetzungstechniken - als auch die historische, wenn sie die jeweiligen Wirkungsästhetiken in den zeitgenössischen Ideenhorizont einbettet. Der Tatsache, dass die Autorin hauptberuflich als Lehrerin arbeitet, dürfte der angenehm luzide, ja didaktische Stil ihrer Ausführungen geschuldet sein. Methodische Schnörkel oder philosophische Digressionen mag vermissen wer will. Sie hat starke Argumente vorgelegt, mit denen der Einschätzung der Lessing-Editoren Karl Lachmann und Franz Muncker aus dem 19. Jahrhundert ein für allemal entgegenzutreten ist, wonach es sich bei Lessings Übersetzungen um den "unkünstlerischeren Teil" des Werks handle!