Zuckungen und Andeutungen durchs Unerträgliche
Timothy Boyd sucht nach Erotik in der Dichtung Paul Celans
Von Joachim Seng
Die Themen Liebe und Erotik sind in der uferlos gewordenen Forschungsliteratur zur Lyrik Paul Celans "auffällig unterbeleuchtet" geblieben. Zu Recht weist Timothy Boyd in seiner Arbeit zur Erotik in der Dichtung Paul Celans darauf hin. Die Gründe dafür lassen sich nur erahnen, aber man wird wohl sagen dürfen, dass eine gewisse Scheu vorhanden war, in dem Dichter der 'Todesfuge' auch einen Liebesdichter zu sehen. Zu stark wirkte in der Auseinandersetzung mit Celans Dichtung Adornos fragwürdiges Diktum nach, demzufolge es "barbarisch" sein sollte, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben.
Für Liebeslyrik musste dies in besonderem Maße gelten. Adornos Vorstellung vom 'Gedicht' betrachte "Auschwitz aus der Nachtigallen- oder Singdrossel-Perspektive", kommentierte Celan 1967 bissig, und stellte damit die Verbindung zu jener Sprache her, die noch zu viel Wert auf "Musikalität" und jenen "Wohlklang" legte, "der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte". Celans Dichtungssprache wollte gerade das nicht. Sie versuchte wahr zu sein, misstraute dem "Schönen" und sollte nach Celans eigener Definition "grauer", "nüchterner" und "faktischer" sein. Szondi hat treffend bemerkt, dass die Aktualisierung der Vernichtungslager nicht allein das Ende von Celans Dichtung, sondern zugleich deren Voraussetzung ist. "Nach Auschwitz ist kein Gedicht mehr möglich, es sei denn auf Grund von Auschwitz." Diese Aussage hat auch für Celans erotische Gedichte Bestand, und selbst wenn man streiten kann, ob die erotische Lyrik Celans, wie Boyd behauptet, "ein Herzstück" seines lyrischen Korpus darstellt, so ist es sicher nicht übertrieben, Celan als den modernen deutschsprachigen Liebesdichter seiner Generation zu bezeichnen. Es wird sich schwer ein dichterisches Werk eines Zeitgenossen finden lassen, in dem Liebe und Erotik ein ähnlich bedeutender Stellenwert beigemessen wird, wie bei Celan.
Aus einem poetischen Text Celans, den Boyd erstmals veröffentlicht, kann man erkennen, welche Bedeutung der Dichter der Liebe für sein dichterisches Sprechen beimaß. Am 7. November 1962 notiert er: "Es muß Wahrheit geschehen / und / Liebe." Dass Liebe und Wahrheit für den Dichter hier so untrennbar zusammengehören, hat allerdings weniger mit Erotik, als mit Celans bitteren Erfahrungen im Zusammenhang mit der von Claire Goll angezettelten Rufmordkampagne zu tun, die in den Gedichten des Bands 'Die Niemandsrose' nachhaltige Spuren hinterlassen hat.
Noch 1965, als Celan von Robert Neumann für die Anthologie '34 x erste Liebe' nach ersten erotischen Erlebnissen befragt wurde, verweigert er die Aussage und stellt in seinem Antwortschreiben die Verbindung zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen her: "Ich glaube nämlich, obwohl ja, wie ein Zeitung, leserbrieflich zu vermelden wußte, das von mir sub specie calami Exhibierte ein einziger Dank an die Mörder von Auschwitz ist [...] immer noch an Menschen, Juden, die Liebe, die Wahrheit, die Laubfrösche, die Schriftsteller und die Klapperstörche" und, wie es am Ende heißt, an die "Solidarität". Schon daran lässt sich ablesen, wie schwierig es ist, die Grenzen zwischen Mitmenschlichkeit, Liebe und Erotik im Werk Celans zu bestimmen. Und es ist, wie Boyd mit Recht feststellt, eine "grenzüberschreitende Solidarität" mit der Gemeinschaft der Verfolgten, Exilierten und Juden, die Celan in seinen erotischen Gedichten beschwört. Erotik als Form der Begegnung enthält bei Celan, wie es Burghard Damerau einmal formulierte, "ein immenses humanes Potential für die Zukunft" (In: 'Ich stand in dir.' Bemerkungen zur Erotik bei Celan, 1996).
Bisher wurde nur in wenigen kürzeren Aufsätzen auf die erotische Metaphorik Celans hingewiesen - so bei Bevilacqua (Erotische Metaphorik beim frühen Celan, 1998), Speier ("Petrarca ist wieder in Sicht". Eros und Sexus im Spätwerk Celans, 2000) und Emmerich ("Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten": Zur Eigenart der Liebesgedichte von Paul Celan, 2005). Um so gespannter wartete man auf eine größere wissenschaftliche Arbeit, die sich mit dem Thema Erotik in Celans Lyrik beschäftigt.
Nun also hat Boyd eine solche Untersuchung vorgelegt. Doch schlägt man das Buch auf, kehrt rasch Ernüchterung ein. Bereits aus dem ersten Kapitel, in dem einige "dichtungsgeschichtliche Konstellationen" zum Verhältnis zwischen Poetik und Erotik aufgezeigt werden sollen, wird man nicht schlau. Es erschließt sich dem Leser nicht, warum der Autor unter der Überschrift 'Vorwelt(en)' zwar etwas über die Dichter Ovid, Hesiod, Novalis, Goethe und Heine schreibt, auch das Hohe Lied nicht unerwähnt lässt, aber die Moderne mit Dichtern wie Rilke, George oder Brecht nahezu ganz verschweigt (nur auf Bezüge zur Dichtung Trakls und Lasker-Schülers wird gesondert hingewiesen). Auch die Einflüsse französischer und russischer Literatur, die im "vielstimmigen" Czernowitz für den jungen Paul Antschel von großer Bedeutung waren, bleiben seltsam unterbelichtet. Immerhin entstanden bereits 36 Übertragungen aus fünf Sprachen in Czernowitz, darunter viele Gedichte Verlaines und Eluards. Bedauerlich ist zudem, dass im Eingangskapitel so wenig von Celan, aber soviel von Georges Batailles Erotologie die Rede ist. Seitenweise zitiert Boyd in seiner Arbeit Bataille, durch nicht enden wollende Fußnotenungetüme quält sich der Leser und muss am Ende doch erfahren: "Es gibt keinen Hinweis darauf, daß Paul Celan sich jemals mit Texten Georges Batailles auseinandersetzte." Der erstaunte Leser darf sich aber in der folgenden Fußnote mit dem Hinweis trösten, dass sich der französische Soziologe sicher "für die Poesie Celans sehr interessiert hätte".
Es wimmelt in Boyds Dissertation von Spekulationen dieser Art, und man fragt sich zudem, warum den Autor offenbar niemand darauf hingewiesen hat, dass man Fußnoten in wissenschaftlichen Arbeiten nicht mit Informationen überfrachtet, die besser in einem eigenen Aufsatz aufgehoben wären. Sind die Informationen wichtig, dann gehören sie in den Text, ansonsten sollte man auf sie verzichten, weil Fußnoten mit Überlänge - zumal dann, wenn es sich um wortreiche Abschweifungen handelt - den Lektürefluss empfindlich stören. Überhaupt hätte die Arbeit an Umfang verlieren können, wenn Boyd die Sekundärliteratur weniger extensiv zitiert hätte.
Ärgerlich an dieser Studie ist aber vor allem, dass Boyd bei seinen Gedichtanalysen (besprochen werden u. a. die Gedichte 'Todesfuge', 'Corona', 'Am letzten Tor', 'Dein Hinübersein' und 'Aus Engelsmaterie') nicht hält, was er dem Leser verspricht. Gerade den 'Einleitenden Gedanken' zur Analyse des Gedichts 'Haut Mal', dem ein ganzes Kapitel der Arbeit gewidmet ist, stellt er ein Wort Celans aus der Büchnerpreisrede voran, in dem ein Malebranche-Wort nach Benjamin zitiert wird: "Aufmerksamkeit ist das natürliche Gebet der Seele." Diese Aufmerksamkeit, auch für die "'Zuckungen' und die 'Andeutungen'" sowie für die "Gestalt des Anderen", möchte Boyd den analysierten Gedichten schenken. Aber seine Interpretation bleibt ein Selbstgespräch, weil er Celans Gedichte nicht befragt, sie nicht aufmerksam, Vers für Vers, analysiert, sondern ihnen gleich seine Antworten und intertextuellen Parallelstellen entgegenhält. Dabei hätte er im 'Meridian', kurz nach der von ihm angeführten Stelle, Celans Hinweis finden können: "Das Gedicht wird - unter welchen Bedingungen! zum Gedicht eines - immer noch - Wahrnehmenden, dem Erscheinenden Zugewandten, dieses Erscheinende Befragenden und Ansprechenden; es wird Gespräch - oft ist es verzweifeltes Gespräch."
Charakteristisch für Boyds Interpretationsstil ist seine Analyse des Gedichts "Aus Engelsmaterie" in dem Kapitel 'Kabbala und Liebe', in dem es um die wichtige Beziehung von Celans erotischer Lyrik zur jüdischen Mystik geht. Sicher ist es interessant und wichtig, dass Boyd nachweisen kann, dass Celan fast für jedes Motiv des Gedichts "eine vielschichtige Entsprechung" in Scholems Buch 'Von der mystischen Gestalt der Gottheit' gefunden hat, das der Dichter im Frühjahr 1967 las. Aber muss man wirklich, um den Beweis der Nähe zu erbringen, auf drei Seiten zu jedem Celan-Vers die passende Stelle aus Scholems Abhandlung zitieren? Celans Gedicht, daran zweifelt ja auch Boyd nicht, ist mehr als eine poetische Zusammenfassung von Scholems Text. Aber darüber erfährt man in der vorliegenden Studie wenig. Der Autor liest aus Celans Versen nur das heraus, was er lesen möchte und beraubt das Gedicht damit seiner poetischen Vielstelligkeit. Einen poetischen Dialog im Sinne Celans stellt man sich anders vor.
Zudem sind einige von Boyds Schlussfolgerungen mehr als fragwürdig. Dies zeigt sich vor allem im letzten Kapitel der Untersuchung, wo am Beispiel des Gedichts 'Haut Mal' nicht weniger als die "Tiefenstruktur der Celanschen Schreibweise in ihrer Allianz mit den erotischen Kräften der Literatur" herausgearbeitet werden soll. Aber was soll man davon halten, wenn Boyd in einer Fußnote zwar selbstbewusst behauptet, die Celan-Forschung müsse nun aufgrund seiner Untersuchungen zu 'Haut Mal' im Bezug auf Celans Trakl-Lektüre "revidiert werden", weil der Text es nahe lege, dass Trakls Gedicht 'Der Heilige' für Celans Spätwerk von großer Bedeutung gewesen sei, er dann aber als Beleg für seine These (mit der er immerhin den Celan-Freund und -Forscher Bernhard Böschenstein "widerlegt" haben will) anführt, Celans psychischen "Nöte im Jahre 1967" machten die Trakl-Lektüre zur gleichen Zeit "wahrscheinlich". Celan habe dem Trakl-Gedicht seine tiefste Aufmerksamkeit zu einem Lebenszeitpunkt geschenkt, "als er von einem 'entsetzlichen Alp' so bedrängt war, daß er ein Messer in sein eigenes Herz gestoßen hatte".
Auch die Trakl-Monografie von Celans Wiener Förderer Otto Basil muss der Dichter nach Meinung des Autors vor Abfassung des Gedichts 'Haut Mal' gelesen haben. Sie fehlt zwar in Celans Nachlass-Bibliothek und eine Lektüre ist nicht belegt, aber da Basil auf die Verbindung zwischen Trakl und Baudelaire hinweist, und Boyd Baudelaires 'Femmes Damnées' und andere Gedichte aus den 'Fleurs du Mal' für bedeutende intertextuelle Bezüge hält, erscheint die Lektüre für ihn eben "plausibel".
Nein, plausibel erscheint dem Leser hier wenig, schon gar nicht die befremdlichen Ausflüge des Autors ins weite Feld der vermeintlichen biografischen Koinzidenzen. Mit ungläubigem Erstaunen liest man da: "Als Celan 'Haut Mal' im Frühjahr des Jahres 1967 schrieb, befand er sich als siebenundvierzigjähriger Mann in psychiatrischer Behandlung in einer Klinik in Paris. Genau ein Jahrhundert zuvor war Baudelaire im Alter von sechsundvierzig Jahren in einer Pariser Klinik in den Armen seiner Mutter gestorben. 'Haut Mal' spannt sich um diese topo-biographische Koinzidenz und bildet akut ein Gedenken in jedem verfügbaren Sinn." Um eine poetologische Affinität zwischen Celan und Baudelaire zu belegen, bedarf es in einer wissenschaftlichen Arbeit besserer Argumente.
Bereits vor einem Jahrzehnt hatte Damerau in einem kurzen Aufsatz zur Erotik bei Celan darauf hingewiesen, dass "Todesnähe und Lebenslust, Gedächtnis und Hoffnung, Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen Dimensionen des Erotischen bei Celan" sind. In dieser Spannung versuchten Celans späte Gedichte, die Erotik wiederzugewinnen und zwar vor allem dadurch, dass er nun "häufiger erotische und religiöse Motive" verbinde. Viel mehr erfährt man auch aus Boyds 350-Seiten-Studie nicht. Die Bedeutung des Erotischen für das Sprechen Celans bleibt also weiterhin "unterbeleuchtet", rätselhaft und erklärungsbedürftig.