Dienstag, 7.4.
Vor dem Einschlafen der Gedanke: „Wann kann ich wieder mit dem ICE zu meiner Familie fahren? Wann traue ich mich wieder in einen überfüllten Zug?“ In der Nacht Corona-Träume, die mir sofort entfallen sind. Erinnerung im Koma.
Am Telefon ergreifen die Menschen von mir Besitz. Sie sind ausgehungert nach Zuwendung, reden ohne Punkt und Komma von ihren Sorgen. Sie leben in einem Corona-Kokon, einem Gespinst aus verschlungenen Gefühlen und Panik-Loops. Ich bin degradiert zum Stichwortgeber im einseitigen Monolog. Mein Ärger wächst, auch auf meinen Analytiker, dem mein Seelenheil egal scheint.
Der britische Premier Boris Johnson ist auf der Intensivstation. Er ist an COVID-19 erkrankt, bekommt Sauerstoff. Gab es nicht vor einigen Tagen noch eine Vernissage in der überfüllten Tate Modern in London, als der Rest der Welt schon Mundschutz trug?
China lebte zwei Monate in strenger Quarantäne, in Wuhan waren mehrere Millionen Menschen total isoliert. Vor dem Shutdown verließen mehr als 5 Millionen die Megacity. In welche Orte und Landstriche haben sie das Virus gebracht? Wie eine Spinne hat die Partei ihr Kontrollnetz über das Land gezogen. Es wird registriert, wer sich welches Medikament kauft. Wer in eine Apotheke geht, muss seinen Ausweis vorzeigen. Unternehmen sind dazu angehalten, den Gesundheitszustand ihrer Mitarbeiter zu kontrollieren und sie gegebenenfalls zu melden.
Zahlen für Deutschland: 103.379 Infektionen, 1810 Todesfälle. Genesen sind 36.081 Menschen.
WEJI, das chinesische Wort für Krise, besteht aus zwei Zeichen. Das eine steht für Gefahr, das andere für Chance.
Aus Eva Strasser: Splitter aus der Quarantäne. Ein Corona-Tagebuch. Sonderausgabe literaturkritik.de. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2020