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Formen des Kunstreligiösen

Peter Handke – Christoph Schlingensief

Von Lore Knapp


Elisabeth Schröder schrieb uns am 03.04.2019
Thema: Lore Knapp: Formen des Kunstreligiösen

Schein oder heilig?
Lore Knapps Buch „Formen des Kunstreligiösen. Peter Handke und Christoph Schlingensief“


Wovon es nicht alles einen Gott gibt: „Der Gott der kleinen Dinge“, „Der Gott jenes Sommers“, „Der Gott des Gemetzels“ Es gibt den Rapper Retrogott, man schwärmt von Stil-Ikonen, Ikonen der Rock- und Popmusik, Kathedralen der Industriekultur und dem heiligen Rasen des Fußballs. Warum Anleihen aus dem Religiösen, wo doch Bindungen an Glaube und Kirche gesamtgesellschaftlich abnehmen? Anscheinend haben christliche Begriffe und Symbole immer noch Strahlkraft. Zur pervertierten Form gemacht, als verkaufsfördernder Signal-Effekt, springt sie besonders zu den christlichen Hochfesten in der kommerziellen Werbung entgegen. Wie steht es damit im künstlerischen Bereich, in der Literatur und dem Theater?
Diese Frage untersucht die an der Universität Bielefeld lehrende Germanistin Lore Knapp in ihrem 2015 erschienenen äußerst lesenswerten Buch „Formen des Kunstreligiösen“ über das Oeuvre des Schriftstellers Handke und die Performances, Interviews und Schriften des 2010 verstorbenen Theater-Tausendsassas Schlingensief. Die Säkularisierung religiöser Inhalte ist nämlich im Künstlerischen sehr vielschichtig und nicht ganz so leicht als verwerflich abzutun wie im Kommerziellen.
Beide Künstler sind stark von ihrer katholischen Erziehung geprägt, selbst in ihrer späteren wütenden Abkehr und ständigen Widersprüchlichkeit. Handke schreibt: „Die Religion war mir seit Langem zuwider, und trotzdem verspürte ich auf einmal eine Sehnsucht, mich auf etwas beziehen zu können.“ Sie führt bei Handke zur bloßen Suche nach einem universellen Zusammenhang. Sein von ihm „Stoßgebet“ genanntes „Wer bin ich?“ bedient sich der Sprachzeichen, also z.B. dem Wort „Stoßgebet“, nur noch als Vokabular, als Mittel zum Selbstbezug. Diese Haltung gab es schon immer, Luther nannte sie „incurvatus in se“, also „eingekrümmt in sich selbst“. Bei dieser Blickrichtung verschwindet die ursprüngliche Bedeutung des Sprachzeichens „Stoßgebet“, auf Gott zu zeigen. Ebenso dreht Handke die eucharistische Bedeutung der Wandlung als symbolische Erlösung der Gläubigen durch Jesus um zur Wandlung durch Selbsterlösung beim Akt des Niederschreibens eigener Texte. Die Selbsterhebung zum Erlöser für sich und die Leser - durchaus mit ernst gemeintem mystischem Anspruch - resultiert aus der Panik vor der inneren Ödnis, wenn er schreibt: „Ich stampfe mir einen Gott aus der Leere.“ Man denkt da an Franz Schuberts Liedzeile „Will kein Gott auf Erden sein, sind wir selber Götter!“ Wenn Handke vom „Licht der Welt“ spricht, ist das für ihn nicht Jesus, sondern die Sprache. Sie ist für ihn nicht Mittel, sondern Ziel seiner Suche nach dem Zentrum. Für die Mystiker ist das Zentrum der kurze, monumenthafte Stillstand, in dem man das Wesen der Dinge oder der Welt wirklich empfindet, letztlich Eins wird mit Gott. Aber Handke verliert sich mit seinem Sprachdenken in unzählige Verweise auf weitere mystische Ding-Erlebnisse und sich selbst. So verfehlt er das Zentrum oder umgeht es absichtlich. Trotzdem spricht Handke wie ein Geistlicher zu seinen Rezipienten: „Friede sei mit dir, Leser!“ und fühlt sich berufen, die „aller Alltagswahrnehmung entzogene Harmonie in der Dingwelt auch anderen zugänglich“ zu machen.
Die autorenspezifische Untersuchung der Formen des Kunstreligiösen geht von drei grundsätzlichen Unterscheidungen beim Begriff Kunstreligion aus: Erstens: Die Kunst ist Medium der Religion, führt also tatsächlich zu religiösen Inhalten hin, im Christlichen zur Botschaft Jesu. Zweitens: Die Kunst übernimmt die Funktion von Religion, d.h. ihre Wahrnehmung löst beim Rezipienten ähnliche Wirkungen aus wie sonst religiöse Inhalte. Drittens: Die Kunst ist selbst Religion, d.h. ein Kunstwerk verkörpert für den Rezipienten eine göttliche Botschaft. Manche erleben das ähnlich mit unberührter Natur, z.B. dem Aufenthalt im Wald als Gottesdienst. Das Geschaffene vertritt hier den Schöpfer, bzw. das Zeichen das Bezeichnete.
Welche der drei Bedeutungen finden sich bei Handke? Lore Knapp zeigt an Textbeispielen, wie Handke sein Schreiben zu seiner Privatreligion erhebt, und zwar für einen Lesertyp, bei dem seine Werke eine Wirkung auslösen wie sonst bei religiösen Inhalten. Sie sieht bei aller objektiven Beschreibung die Gefahr, dass Handke auch menschliche Beziehungen und allgemeine Gesetze dem ästhetischen Postulat unterordnet. Hier wird es nicht nur für sie fragwürdig, z.B. angesichts der politischen Implikationen seiner umstrittenen Serbien-Texte, die gegen die Urteile internationaler Gerichtshöfe bezüglich der damaligen Kriegsereignisse standen. In wissenschaftlicher Redlichkeit übergeht Lore Knapp die Kränkungen, die Gläubige bei manchen Textstellen Handkes empfinden könnten.
Noch krasser sind Schlingensiefs priesterliche Anmaßungen bis hin zur Erlöserrolle, selbst wenn er abwiegelt, es sei „Murks, wenn man durch eigene ästhetische Erfahrung einen Bezug zum Göttlichen herstellen“ würde. Aber die Auseinandersetzung mit Glauben und Kirche lässt ihn nicht los; es ist jetzt für ihn Die Kirche der Angst, wie er sein Fluxus-Oratorium betitelt. Während, wie auch bei Handke, nie klar wird, ob die Kunst selber zur Religion geworden ist oder die Funktion der Religion übernimmt, fügt Schlingensief in seinen Performances diesem Schillern zwischen Glauben und Unglauben noch das Element des Schockierenden und oft Gaudihaften hinzu. Knapp berichtet von den miterlebten Aufführungen: In der Church of Fear nennt er sich „Leidensbeauftragter“ und verteilt T-Shirts mit dem Aufdruck „Ich will heilig werden.“ Die Zuschauer im Nachbau der Oberhausener Herz-Jesu-Kirche verhalten sich wie andächtige Gottesdienstbesucher, wenn sie seine Texte sowie das „5. Evangelium“ von Joseph Beuys anhören. In Schlingensiefs kreativer Antwort auf seine Krebsdiagnose Unsterblichkeit kann töten. Sterben lernen übernimmt ein kreuztragender Schauspieler die Jesus-Double-Rolle des Autors, gleich danach spielt der selber aber den verrückten Papst Mabuse. Das Theater in der Kirchenkulisse negiert Gott und wendet sich an die „Gemeinschaft der Nicht-Gläubigen“. In der Presse häuften sich nach Ansprachen wie „Gott ist nicht gut. Aber tröstet euch, ich bin gut“ und den Prozessions-Happenings die Blasphemievorwürfe. Was ist davon zu halten, wenn sich Schlingensief verteidigte, die Prozession sei „ernsthaft religiös gemeint“? Vertritt er in diesem Hin und Her die Zweifel vieler Christen? Spiegelt das parodierende Fluxux-Nachspielen von Ritualen, das Pervertieren von Liturgie und Glaubenssätzen den verbreiteten respektlosen gesellschaftlichen Umgang mit Religion oder pusht er ihn? Schlingensief vollzieht, aber dekonstruiert dabei die christlichen Rituale und Symbole. In Mea Culpa werde die Kunst endgültig zur Religion, sagt der Philosoph Boris Groys, und zwar gerade dadurch, dass sie keine Religion außer sich mehr brauche. Das ist als Verkehrung des 1. Gebotes die eindeutige Position: Kunst als Religion. Aber Schlingensief spielt auch damit: Erst stellt er sein Leiden analog zu Jesus dar und springt dann auf wie die Gliederpuppe Petruschka und distanziert sich von der Rolle. Effekthascherei oder Selbstentblößung der inneren Zerrissenheit? Die Heiligenrolle ist bei Schlingensief immer eine schonungslose Auseinandersetzung mit seiner Künstlerrolle. Lore Knapp nimmt die Konflikte und Verzweiflungen in Bezug auf den Glauben bei den zwei ausgewählten Künstlern anhand ihrer Werke in einen so wertfreien, offenen Blick, dass sich Lesende trauen können, Eigenes wiederzuerkennen. Vielleicht wird nach der Lektüre dieses Buches die Alltagsbeobachtung all der übertriebenen Selbstinszenierungen, vermeintlichen Transzendenzbezüge und trügerischen Heilsfunktionen wacher.

Lore Knapp: Formen des Kunstreligiösen. Peter Handke - Christoph Schlingensief.
Verlag Wilhelm Fink, Paderborn 2015,
ISBN 978-3-7705-5887-2


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