Leserbriefe zur Rezension

Eine verlorene Kunst

Holger Afflerbach analysiert die Geschichte der Kapitulation als Prozess humanitärer Einhegung des Krieges

Von Jens Flemming


Holger Afflerbach schrieb uns am 12.07.2013
Thema: Jens Flemming: Eine verlorene Kunst

Sehr geehrter Herr Flemming,

zunächst vielen Dank für Ihre Besprechung meines Buches. Ich habe eine Anmerkung, die ich weniger aus Rechthaberei anbringen möchte als deshalb, weil Sie mich, wenn auch gegen Ihre Absicht, von dem Wert der Unterscheidung zwischen "systemischen" und "unsystemischen" Kriegen erneut überzeugt haben.

Zuerst: Die Unterscheidung ist idealtypisch, und das bedeutet, daß dies die "reinen" Formen sind, die sich in der Realität fast immer mischen. In "systemischen Kriegen" finden sich Elemente des "unsystemischen", des "ungeregelten" Krieges, und umgekehrt. Und doch gibt es gravierende Unterschiede zwischen beiden Kriegsformen, die gerade durch Ihr Beispiel grell beleuchtet werden. Sie schreiben in Ihrer Rezension:

"Begrifflich macht er einen Unterschied zwischen „systemischen“, bestimmten Regeln folgenden, und nicht systemischen, keine Regeln anerkennenden Kriegen. Dies ist natürlich ein Konstrukt, das in reiner Form kaum realitätstüchtig ist. In jedem regelgerechten Krieg, wenn solche denn überhaupt dingfest zu machen sind, lassen sich Phänomene und Verhaltensweisen beobachten, die nicht regelkonform sind. Das war, wie immer wieder deutlich wird, selbst in denjenigen Epochen der Fall, in denen die Bemühungen um eine Zähmung der Gewalt einsetzen, um eine international sanktionierte Verrechtlichung des Krieges. Man muss nicht allein auf den Vernichtungskrieg der Deutschen gegen Polen, Russen und Juden zwischen 1939 und 1945 verweisen, um die Grenzen solcher Konzepte zu erkennen."

Ich habe in meinem Buch die Unterscheidung getroffen,  daß der Zweite Weltkrieg in Westeuropa  als vorwiegend systemischer, also Regeln gehorchender, und im Osten als vorwiegend unsystemischer, also Regeln mißachtender, Krieg geführt wurde. Nun die Frage an Sie: War im Zweiten Weltkrieg eine Kapitulation an der Ostfront, im unsystemischen, oder im Westen, im systemischen Krieg besser für den Verlierer? Einige Zahlen: Die Sterberate britischer Kriegsgefangener in Deutschland betrug 3,5 %; die deutscher Kriegsgefangener in Großbritannien 0,5 %; die Sterberate sowjetischer Kriegsgefangener in Deutschland über 57 %, die deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion 35,8 %.

Diese Zahlen zeigen, meines Erachtens eindeutig, den Unterschied zwischen „systemischen“ und „unsystemischen“ Kriegen, und zwar genau in dem Feld, in dem Sie diese Unterscheidung als „kaum realitätstüchtig“ ad absurdum führen wollten. Dies könnte auch an vielen anderen Faktoren festgemacht werden und zeigt, welchen großen Unterschied die Beachtung von Regeln im Krieg machen.

Ich bitte um Verzeihung für das Nachkarten und danke für die Besprechung meines Buches.

Mit freundlichen Grüßen
Holger Afflerbach