Hannelore Sinanoglu schrieb uns am 10.05.2006
Thema: Peter Mohr: Der Cellist und die unspielbare Partitur
Aufgeschmissen ohne Internet
von Hannelore Sinanoglu
Nachdem die beleidigte Erwartung abgezogen ist und sich der Aufruhr gelegt hat, tritt dem Leser der Hintersinn Adolf Muschgs entgegen. Er hat, wie James Joyce in seinem grotesken Alterswerk Finnegans Wake Erotik und Sprachmusik betreibt, in seinem Roman "Eikan, du bist spät" hinter mit kräftigen Strichen gezeichneter Manga-Maske (Chienlit), Erotik und Musik vereint. Für Diagonalleser ungeeignet, durchzieht das Schlüssel- und Schlossmotiv, welches der Internetnutzer sich erschließen kann, den kniffeligen Roman, dem eine Welt ohne Schlüssel gegenüber steht.
Einer Komposition analog spielt Muschg Variationen realer und irrealer sexueller Begegnungen ironisch durch. Wer vergißt, dass es sich um das Cello als Soloinstrument und um Beziehungen des Cellos zu anderen Instrumenten oder zu Gesangsolisten handelt, liest nur die Buchstaben, findet aber nicht den Schlüssel wie der Protagonist, welcher der Hilfestellung einer Freundin bedarf, um eine verschlüsselte Partitur in eine spielbare Komposition zu verwandeln. Muschg zwingt den Protagonisten Rätsel zu lösen. Die Freundin versteht es, sich ihm zu entziehen, weckt Sehnsucht und bleibt treu, nur Leuchter erkennt nicht das Maskenspiel, hinter dem sich seine Anima verbirgt.
Am auffälligsten komponiert ist das konspirative „Celloquartet“ der vier ehemaligen Cellisten mit dem Anfangsbuchstaben L, die sich presto über die abwesende Cellistin Frau Sumi Fujiwara und ihre gefährdete Position unterhalten. Jedoch unter all den strapazierenden Begegnungen findet sich überraschend eine für Zärtlichkeit, eine wunderbare Stelle mit Rohrflöte; hier bläst die Frau die zauberischen Shakuhachi-Töne, die an seine Seele rühren. Muschg gibt nicht nur seinem Protagonisten Rätsel auf. Der Leser ist eingeladen, auf die zahlreichen verdeckten muschgschen Wortwinke zu achten, dann ist er in der Lage, wegweisende Musikstücke, die der Autor im Verlauf des Romans versteckt hat, auf CD anzuhören oder Konzerte zu besuchen und findet Komponisten und Interpreten heraus, die sich internationale Sporen verdient haben. Dabei sind alle Sparten vertreten von der Volksmusik bis zu Händels Festmusik, Filmmusik, Jazz, Rock, Kirchliches und Kompositionen bis hin zur Oper.
Als Fundgrube für Schatzsucher erweist sich versteckte Lyrik. Literarische Fabelmasken und eine Reihe wichtiger Film-Wegmarken bis in die Gegenwart steigen auf, die sich hinter Andeutungen verbergen. Für angehende Germanisten ist dieser Roman ein lohnendes Studienobjekt.
Bezüge zur modernen Entwicklung hinsichtlich Medien, Tonkunst und grenzüberschreitender Künste reichen von Europa bis nach Amerika und Japan; ein weltumspannendes Geflecht aus Musik in literarischer Form ist den Lesern, die den französischen, englischen und japanischen Worten, Namen und deutschsprachigen Andeutungen nachgehen, bereitet worden. Das Internet ist eine wesentliche Hilfe (auch hinsichtlich japanischer Namen oder Worte) bei der Entschlüsselung der Mehrdeutigkeit, die sich wie ein überraschender Fächer oder als Kaleidoskop hinsichtlich anderer Kunstsparten oder Wissensgebiete auftut. Muschg spielt Strategiespiele, lacht heimlich zwischen den Zeilen und geleitet den Leser allmählich hin zum Zen. - Einen neuen Anlauf nehmen, Altes loslassen, den üblichen Weg verlassen, einen selbstbestimmtem Schritt, und sei es nur ein Halbschritt, nach vorn wagen, ist die Botschaft für Avantgarde, Cross-Over und die Chance für Entwicklung überhaupt. Der Protagonist Andreas Leuchter ist nicht das Licht, jedoch der Träger des Lichts, der Muschg dient, dem Leser die Bezüge zur Musik, zu Kompositionen, zu Komponisten und zu aktuellen Musikern und Filmschaffenden und Comic-Künstlern zu weisen. Der in Aussicht gestellte Ort der letzten Begegnung ist die Kathedrale von Chartres, wo Adam, der Lausejunge, sich von Gott lausen läst. Dort wird Leuchter endlich zu seinem Lausemädchen finden. Selbst in dieser Verschlüsselung verbirgt sich Cellomusik und verbergen sich Interpreten und Bezüge zu „Les Enfants du Paradis“. Ich wünsche den Lesern Erfolg beim gewaltlosen Lösen muschgischer Knoten, denn Andreas Leuchter ist kein Alexander sondern ein Mann auf dem Weg zu sich selbst.
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