Gewitzter Sprachkosmos
Jonathan Lethems Deutschland-Premiere mit "Motherless Brooklyn"
Von Martin Gaiser
"Ich bin in der Bibliothek des St. Vincent Waisenhauses für Jungen aufgewachsen, in einer Gegend von Downtown Brooklyn, die bisher noch kein Stadtplaner für eine gehobene, sanierte Nachbarschaft auserkoren hat." Sagt Lionel Essrog, Hauptfigur des Romans "Motherless Brooklyn". Autor dieses Aufsehen erregenden Buches ist der 1964 in New York City geborene Jonathan Lethem. Und Lionel sagt weiter: "Ich bin Jahrmarktschreier, Auktionator, Straßenkünstler, Wortverdreher, ein Abgeordneter bin ich, trunken vom vielen Reden. Ich habe Tourette."
Oh Gott, könnte man denken, die Schicksalsgeschichte eines doppelt Stigmatisierten. Nicht genug, dass der Autor sich einen Waisen als Protagonisten gewählt hat, muss er ihm auch noch Tourette verpassen, jenes Syndrom, das Menschen dazu verdammt, zwanghaft Worte verdrehen und Handlungen wiederholen zu müssen. Doch "Motherless Brooklyn" ist ganz anders. Es ist ein hochkomischer Großstadtroman, aufgrund der ständigen Wortspiele, die unkontrolliert Lionels Mund verlassen, ein gewitzter Sprachkosmos, der die eigene Fantasie beflügelt. Und dieses Buch, das in den USA den National Book Critic's Circle Award erhielt, ist ein Noir-Krimi mit viel Tempo, Spannung und verblüffenden Wendungen. Lionel und ein paar seiner Kumpels aus dem Waisenhaus werden von Frank Minna, einem Stadtteil-Ganoven mit Mafiakontakten, für kleinere Jobs angeheuert. Jahre später arbeiten sie für ihn, werden zu den "Minna Men", die unter dem Deckmantel eines Fahrdienstes allerlei Zwielichtiges treiben, auch wenn der Laden eigentlich eine Detektei sein soll. Lionel beobachtet während einer Observation, wie sein Chef und Mentor umgebracht wird und macht sich fortan auf die Suche nach dem Mörder. Diese Suche führt ihn durch sein Brooklyn, zu Franks Witwe, die mit der Trauer verdächtig gut klar kommt und in ein buddhistisches Zentrum, wo er nicht nur, aber auch, auf eine anziehende junge Frau trifft. Schlägereien, Verfolgungsjagden - das ganze Arsenal klassischer Detektivgeschichten spult Jonathan Lethem gekonnt, aber nie routinert ab. Zwei Essays von Oliver Sacks ("Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte") über Tourette haben Lethem inspiriert, dieses Phänomen in einem Roman zu verarbeiten. Und Sacks hat Lethems Buch prompt gelobt. Damit nicht genug - der Schauspieler Edward Norton ("Fight Club") verfilmt den Roman und will auch die Hauptrolle darin spielen. "Motherless Brooklyn", das aufgrund der Sprachspiele schwer zu übersetzen ist, wurde von Michael Zöllner in ein sehr flüssiges und gut lesbares Deutsch gebracht.
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