Von den Wanderungen der Patriarchen bis zum Staate Israel
Ein historischer Atlas fasst die Geschichte der Juden "von den Ursprüngen bis zur Gegenwart" zusammen
Von H.-Georg Lützenkirchen
Die selbstgestellte Aufgabe des vorliegenden "historischen Atlas" ist beträchtlich: Es soll die "Geschichte der Juden von den Ursprüngen bis zur Gegenwart" dargestellt werden. Was aber für eine ,Geschichte der Deutschen' oder eine ,Geschichte Amerikas' ein zwar umfängliches, letztlich aber klar umrissenes Feld darstellen würde, ist für eine ,Geschichte der Juden' erst noch zu klären: Wer ist Objekt dieser Geschichtsschreibung? Der Staat Israel? Die Juden in der Diaspora, die deutschen Juden, die amerikanischen Juden? Tatsächlich - und darauf verweisen zwei kurze kluge Einführungsartikel - muss eine Universalgeschichte der Juden die Vorstellung des Raums und der Zeit als Fixpunkte historischer Erfahrung klären. Auch aus der Perspektive eines idealisierten jüdischen Kollektivs als Gemeinschaft oder Staat entsteht kein einheitlicher Raum, in welchem sich die jüdische Geschichte abspielt. Statt dessen gibt es viele Räume, in denen jüdische Identitäten ausgebildet werden.
Die fehlende eindeutige Geschichtsidentität wirkt sich auch auf das Geschichtsbewusstsein aus. Es richtet sich aus zwischen extremen Polen, auf der einen Seite "eine Amnesie oder ein Auslöschen der Vergangenheit", auf der anderen Seite "Ausnutzung der Vergangenheit durch nationalistische oder revolutionäre Ideologien." Am folgenreichsten in der ,Ideologie' des Zionismus. Der Zionismus kann, unabhängig von den zeithistorischen Bedingtheiten seiner Entstehung als ein Zurück zur Eindeutigkeit interpretiert werden. Er schuf die Voraussetzungen für den demokratischen Staat Israel in Palästina, jenem Gebiet, in dem im 10. Jahrhundert vor Christus das hebräische Königreich erstmals zu einer eindeutigen historisch-politischen Identität geworden war. So kann der Staat Israel an diese Eindeutigkeit anschließen. Doch bleibt davon gänzlich unbelastet das andere Kennzeichen jüdischer Geschichte: die Diaspora. Zwar ist Israel heute das zentrale geistige, wirtschaftliche und politische Zentrum der Juden, indes leben in der Region Palästina nach wie vor ,nur' 32 Prozent aller Juden. Damit ist zwar seit der Zeit der Könige, als 80 Prozent aller Juden in Palästina lebten, ein neuer Höchststand erreicht, doch die Mehrzahl der Juden lebt nach wie vor in der Diaspora. Die Erfahrung der Diaspora war prägend für die Realität jüdischen Lebens in der Geschichte, spätestens seit der Rückkehr aus der "Babylonischen Gefangenschaft" im 6. Jahrhundert v. Chr. nach Palästina: Während die ,Rückkehr nach Zion' mit dem Aufbau des Zweiten Tempels das ursprüngliche Zentrum neu entstehen ließ, bildeten dennoch die in Babylon verbliebenen Juden eine starke und einflußreiche Diaspora. Diese Erfahrung verweist auf ein grundsätzliches Dilemma: Gehört das Nebeneinander von Zentrum und Diaspora zur jüdischen Geschichte und damit zu ihrer Identität? Dann steht allerdings das seit dem 19. Jahrhundert die jüdische Identität prägende zionistische Selbstverständnis zur Debatte. Denn der Zionismus, so meinen heute die sogenannten Postzionisten, habe zwar die Grundlagen für den demokratischen Staat Israel geschaffen, beinhalte aber nach wie vor die Ausgrenzung und Diskriminierung aller Nichtzionisten - der Palästinenser zum einen, darüber hinaus aber auch jener Juden, die - aus welchen Gründen auch immer - ihre Diaspora nicht verlassen und nicht nach Israel kommen wollen. So könne er den Anforderungen des heutigen Israels nicht mehr als Grundlage dienen. Demgegenüber vertreten die Neozionisten seit dem Schock des Jom-Kippur-Krieges 1973, der das staatskonstituierende Zusammenspiel von Zionismus, Sozialismus und Säkularität, vertreten durch die seit der Staatsgründung bis 1977 regierende Arbeiterpartei, ins Wanken brachte, einen religiös motivierten Hang zum Nationalismus, "ja sogar Ethnozentrismus", wie der Autor des Kapitels "Zionismus, Neozionismus und Postzionismus" kritisch feststellt.
Vor diesem Hintergrund kann eine Universalgeschichte der Juden nicht nur aus der Perspektive des Einheitsstaates dargestellt werden. Vielmehr muss sie die Geschichte(n) der vielen jüdischen Gemeinschaften in allen Teilen der Welt darstellen. Das gelingt in diesem Buch ebenso übersichtlich wie anregend. Gesonderte Kapitel informieren über die jüdischen Gemeinschaften, die sich seit der ersten Zerstörung Jerusalems 586 v. Chr. außerhalb Palästinas etablierten. An deren Anfang stehen im 6. bis 4. vorchristlichen Jahrhundert die blühenden jüdischen Gemeinschaften in Ägypten und Babylon, das zeitweise als die neue "Hauptstadt der jüdischen Welt" angesehen wurde. Seit dem frühen Mittelalter gewann das europäische Judentum (das aschkenasische Judentum) an Bedeutung, während parallel zu dieser Entwicklung im aufstrebenden arabischen Herrschaftsbereich das sephardische Judentum vor allem in Spanien und Portugal bedeutende Gemeinschaften herausbildete. Nach ihrer Vertreibung aus Spanien 1492 siedelten sie sich vornehmlich in Südosteuropa, aber auch in Asien und Amerika an. Im übrigen Europa verschob sich seit dem 14. Jahrhundert das Zentrum des europäischen Judentums immer mehr nach Osteuropa, vor allem nach Polen. Diese Kultur wurde im 20. Jahrhundert durch die nationalsozialistische Mordpolitik nahezu restlos zerstört Weitere Kapitel informieren über hierzulande eher unbekannte Orte jüdischen Lebens, wie z. B. "Die Juden in China"; "Die Juden in Indien" oder "Die Juden des Jemen", von denen 1959 im Verlauf der Operation "Auf Adlerflügeln" etwa 50.000 Menschen nach Israel ausgeflogen wurden. In einer ähnlichen Aktion wurden 1984/85 ("Operation Moses") und 1991 fast 30.000 Menschen der lange Zeit ,vergessenen' äthiopischen jüdischen Gemeinde nach Israel gebracht.
Die Texte der einzelnen Kapitel, die von unterschiedlichen Autoren stammen, verzichten durchweg auf spezifische Fachsprache und sind so für jedermann gut lesbar und verständlich. Jedes der auf einer Doppelseite des Buchs untergebrachten Kapitel umfasst neben dem Einführungstext eine oder mehrere Landkarten, mit denen die jeweiligen Themen "in die Dimension des Raumes übertragen werden." Eine Zeittafel sowie Illustrationen und wohlgewählte Abbildungen vervollständigen die Kapitel. Die Chronologie beginnt mit den "Wanderungen der Patriarchen" im 20. bis 16. vorchristlichen Jahrhundert und endet mit einem Kapitel über das heutige Israel: "Zwei Völker - ein Land" (1992-2002). Kapitel wie "Die Wanderbewegungen", "Die Kunst des Manuskripts", "Die Legende des Ewigen Juden", oder "Der Moderne Antisemitismus" durchbrechen die chronologische Darstellung und vertiefen spezielle Themen und Fragestellungen. Ein ausführlicher Index, eine übersichtliche Bibliographie sowie ein knappes Glossar vervollständigen den historischen Atlas und machen ihn zu einem praktischen und informativen Lehrbuch.
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