a + b leuchten im Klee
Psychiater und Psychoanalytiker über den Zusammenhang von Psychose und Literatur
Von Rolf Löchel
Genie und Wahnsinn liegen den Kenntnissen des gesunden Menschenverstandes nach dicht beieinander und in etlichen Trash-Filmen des Horrorgenres spielt das wahnsinnige Genie als mad scientist eine zentrale Gruselrolle. Leute vom Fach allerdings verwenden heute kaum noch die Bezeichnung ,Genialität', die denn auch nicht in Bezug zu Wahnsinn gesetzt wird. An die Stelle des vermeintlich eng verbundenen Paares ist im Diskurs der Psychiatrie dasjenige von Kreativität und Psychose getreten, wie man von Stavros Mentzos erfahren kann. Doch deren Verhältnis zueinander ist eher fragwürdig und zwiespältig als eng, jedenfalls aber so - konstatiert Mentzos -, dass die Zusammenhänge zwischen beiden diskutiert werden müssen. Und das tut er im ersten Beitrag eines dem Thema "Psychose und Literatur" gewidmeten Bandes der Reihe "Forum der psychoanalytischen Psychosentherapie". Eine Psychose könne der Kreativität allenfalls im Anfangsstadium förderlich sein, legt der Psychiater dar. Denn die Produkte fortgeschrittener Psychotiker sind "entweder total chaotisch und ohne jegliche Strukturierung" oder werden "zunehmend formalisiert und entemotionalisiert und schließlich auch rigide und pseudopräzise". Kreativität aber zeichne sich durch eine "gelungene Synthese zwischen spontaner, expansiver Phantasie und ordnender, strukturierender Gestaltung" aus.
Mentzos' Text bildet insofern eine Ausnahme des vorliegenden Bandes, als die anderen Texte sich meist enger an das im Titel vorgegebene Thema "Literatur und Psychose" halten. Erst der abschließende, von Christian Scharfetter verfasste Beitrag wendet sein Interesse von der Literatur ab und ganz der Psychotherapie zu. Meist konzentrieren sich die AutorInnen jedoch auf LiteratInnen, deren Werke sie aus psychoanalytischer Perspektive in den Blick nehmen. So beleuchtet Hans Schultze-Jena Hannah Greens Roman "Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen", und Annegret Mahler-Bungers unternimmt den "Versuch einer Psychoanalyse des Stils von Thomas Bernhard". Die "psychoanalytisch fundierte Hermeneutik" der Gruppen- und Lehranalytikerin fragt nach den "unbewussten Phantasien", die sich in Bernhards "Sprech- oder Schreibweise ausdrücken".
Leo Navratil, der auf "vierzigjährige psychiatrische Anstaltstätigkeit" zurückblicken kann, erklärt im ersten Satz seines Beitrages lapidar: "Schizophrene sind Künstler" - nur werde ihnen keine Gelegenheit gewährt, "ihre künstlerischen Fähigkeiten in die Tat umzusetzen". Nach wenigen Zeilen relativiert Navratil seine ebenso apodiktische wie provokante Universalisierung allerdings schon zu der Partikularisation, dass "zahlreiche Patienten zu künstlerischer Produktion fähig" seien. Diese allerdings könnten zu "anerkannten Art-brut-Künstlern" werden. In seinem erstmals 2002 erschienenen Beitrag stellt der Psychiater "einen der hervorragendsten Künstler unter [s]einen Patienten" vor: Ernst Herbeck, der über vierzig Jahre in der von Navratil geleiteten Landesnervenklinik Maria Gugging lebte, bevor er zu Beginn der 90er Jahre starb. Gab man dem Patienten einen Stift und ein Blatt Papier, berichtet der Arzt, begann er unmittelbar nach der Aufforderung, ein Gedicht zu einem bestimmten Thema zu schreiben, mit dessen Niederschrift. So entstand nicht nur die nicht ganz unbekannte Zeile "a + b leuchten im Klee", sondern im Laufe der Jahre unzählige Gedichte, von denen zwei im Anhang des Buches abgedruckt sind. Herbeck "bedurfte zu jedem einzelnen Gedicht der Aufforderung" und hat diesen ausnahmslos entsprochen. "Ohne die Krankheit wäre Herbeck aber kein Dichter geworden", konstatiert Navratil, "und ohne die äußere Veranlassung hätte er kein Wort geschrieben". Was Produzenten zu Künstlern und deren Produkte zu Kunstwerken qualifiziert, bleibt bei Navratil unerörtert und somit im Dunklen.
Ein weiterer Beitrag gilt Ingeborg Bachmann. Zu Beginn ihrer "psychoanalytische[n] Betrachtungen zum Motiv des Auseinanderfallens und Zusammenfügens" im Werk der österreichischen Schriftstellerin bekundet Benigna Gerisch, dass man kaum mehr etwas "Bedeutsames oder gar Neues über Ingeborg Bachmann sagen" könne. Eine Meinung, die nicht eben dazu angetan ist, die Erwartungen an Gerischs Ausführungen besonders hochzuschrauben. Zunächst aber wendet sich die Autorin gar nicht Bachmann selbst zu, sondern bezieht gegen die "Welle feministischer Literaturwissenschaft" Stellung, von der die Verfasserin des "Todesarten"-Projekts erfasst, "als Leitfigur festgeschrieben und fast verschluckt" worden sei. In den "Wissenschaftlerinnenkanon" der "feministisch geprägten Forscherinnen", die in Bachmanns Werk "eine flammende Anklage gegen die", wie Gerisch mit gesuchter Ironie formuliert, "auf Frauen so ganz und gar zerstörerisch wirkende patriarchalische Gesellschaftsordnung" sehen, möge sie nicht einstimmen und könne daher "nur ein[en] sehr persönliche[n] Beitrag" liefern, der als solcher denn auch kaum von allgemeinerem Interesse ist. Da er nun aber einmal veröffentlicht wurde, soll er hier auch nicht übergangen werden. Bachmann, so Gerisch, sei von "ausgeprägten Selbstzerstörungspassionen gequält" worden, die in ihren Werken zum Ausdruck gekommen seien. Bachmanns "besondere 'Antigone-Tragik'" liege darin, "dass sie uns ein Werk hinterlassen hat, das sich als so hilfreich im Verständnis schwerer psychischer Störungen erweist, dass sich aber für sie selbst kein Weg auftat, um aus dieser Verklammerung von Liebes- und der mit ihr so untrennbar verbundenen Todessehnsucht heraus zu finden".