Typisch französisch!? Typisch deutsch!?
Ruth Florack befasst sich mit der "Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur"
Von Nina Birkner
Bei Ruth Floracks Habilitationsschrift handelt es sich zugleich um den "Schlußstein" eines von der Volkswagen-Stiftung im Rahmen ihrer Förderinitiative zum Thema "Das Fremde und das Eigene - Probleme und Möglichkeiten interkulturellen Verstehens" unterstützten Forschungsvorhabens. Im Zuge des Projekts hat Florack bereits 2001 bei Metzler eine ausgezeichnete, kommentierte Anthologie mit dem Titel "Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur" herausgegeben. Anhand einer Vielzahl von französischen und deutschen Texten von der Frühen Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert belegt sie hier, dass beide Nationen - die deutsche und die französische - über die Jahrhunderte hinweg mit "einem festen Repertoire an Nationalcharakteristika" beschrieben worden sind. Diese dauerhaften Selbst- und Fremdzuschreibungen gehörten "jenseits aller nationalsprachlichen Unterschiede zum gemeinsamen Alltagswissen" und sind "durch die Vorstellung vom Nationalcharakter begründet" worden.
Mit der vorliegenden, in einen theoretischen, einen historischen und einen interpretatorischen Teil gegliederten Arbeit zielt Florack darauf, "die Erträge des Stuttgarter Forschungsprojekts theoretisch zu reflektieren und nach den möglichen Konsequenzen für die Praxis der Interpretation zu fragen". Mit ihrer Studie grenzt sie sich kritisch von der komparatistischen Imagologie ab, die sich traditionell mit der Repräsentation des 'Eigenen' und 'Fremden' in der Literatur befasst und davon ausgeht, dass es wechselseitige nationale Selbst- und Fremdzuschreibungen gebe, die in einem unmittelbaren Zusammenhang zu den internationalen Beziehungen stünden. Diese stereotypen Attribuierungen seien Ausdruck von "national begrenzten Vorurteilen", die es zu dekuvrieren gelte.
Hier setzt Florack an. Sie verdeutlicht, dass es sich bei der "Vorstellung vom Nationalcharakter eines bestimmten Volkes" nicht um ein national begrenztes, sondern um ein "grenzüberschreitendes" Wissen handelt. Diese seit der Frühen Neuzeit über Jahrhunderte tradierten, "erfahrungsresistenten Zuschreibungen" können die "wechselvollen Beziehungen zwischen Ländern" gar nicht zum Ausdruck bringen. Für problematisch hält Florack auch den ideologiekritischen Rückschluss von nationalen Stereotypen in der Literatur auf Vorurteile von Autoren oder ganzen Völkern. Während Vorurteile "affektive Prozesse der Abwertung" beschreiben, können Stereotype nämlich auch positiv sein. Eine mit Stereotypen durchsetzte Rede muss daher nicht notwendig von einer despektierlichen Haltung des Sprechers zeugen. Vielmehr gehören die "bekannten Attribute, die den verschiedenen Gruppen allgemein zugeschrieben werden" - wie auch die Sozialpsychologie und Linguistik hervorhebt - zum kollektiven Wissen, das dem einzelnen ermöglicht, sich in einer "überwältigend komplizierten Wirklichkeit zu orientieren und mit anderen über diese Komplexität zu verständigen". Anstatt also von nationalen Stereotypen auf die wertenden Vorurteile desjenigen zu schließen, der sie gebraucht, sollte vielmehr nach der spezifischen Funktion eines Stereotyps im literarischen Text gefragt werden.
Diese theoretischen Ausführungen macht Florack im interpretatorischen Teil ihrer Studie fruchtbar. Hier analysiert sie ausgewählte kunsttheoretische und kunstkritische Schriften, Reiseberichte, Prosatexte, Aufklärungskomödien, patriotische Lyrik, Vorlesungen und Briefe aus ihrer Textdokumentation "Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen". Im Unterschied zur Imagologie interessiert sie sich dabei nicht für die medial vermittelten Bilder vom anderen Land, sondern für die Bedeutung der nationalen Stereotype im jeweiligen Text. Auch wenn die einzelnen Analysen manchmal etwas knapp ausfallen, erweist sich Floracks Ansatz doch als gewinnbringend. Anhand einer Fülle von Texten belegt sie, dass "die besondere Funktion, die Nationaltopoi in literarischen Texten zukommt, in jedem einzelnen Fall gleichermaßen von der Textstruktur und vom (literatur)geschichtlichen Kontext abhängt."
Überzeugend verdeutlicht Florack auch, wie eng der Rekurs auf Topoi des 'Fremden' und 'Eigenen' in der Literatur mit dem Konzept des Nationalcharakters zusammenhängt: Es liefert "in der Neuzeit" die "Legitimationsgrundlage für den Gebrauch nationaler Stereotype". Je nach Epoche komme diesem Konzept, das eine "Vergleichsebene bei der Wahrnehmung, Beschreibung und Deutung kulturellerer Differenz" biete, eine andere Bedeutung zu. Während es in der Frühen Neuzeit als neutrale Kategorie zur Beschreibung kulturnationaler Unterschiede diene, werde es "unter dem Einfluss des Nationalismus im 19. und 20 Jahrhundert ideologisch vereinnahmt".
Abhängig von dem wissenschaftlichem Kenntnisstand ist der Nationalcharakter eines Volkes im Laufe der Jahrhunderte ganz unterschiedlich - etwa mit der Ordnung der Gestirne, den klimatischen Bedingungen, der geografischen Lage oder der staatlichen Verfassung eines Landes - begründet worden; und auch wenn das Nationalcharakterkonzept mit "zunehmender Ausdifferenzierung des Fachwissens" nicht mehr dem "Anspruch auf empirische Genauigkeit" genügen kann, bleibt es noch im 19. Jahrhundert "in hohem Maße funktional für Darstellungsweisen fremder Kultur, die auf Unterhaltung, Agitation oder auch Kulturvermittlung setzen". Auch im 20. Jahrhundert hat dieses Konzept nicht ganz an Bedeutung verloren. Heute wird zwar nicht mehr vom Nationalcharakter, im alltagssprachlichen Gebrauch dafür aber von der 'Mentalität' eines Volkes gesprochen.
Bei Floracks Studie handelt es sich um eine konzise, theoretisch und methodisch überzeugende Arbeit, die freilich nicht beantworten will, was 'typisch französisch' oder 'typisch deutsch' sein könnte, sondern eine grundlegende Antwort auf die Frage nach der Herkunft und Bedeutung von nationalen Stereotypen bietet.