Reportage als Realismus

Ernst Ottwalts Roman „Denn sie wissen was sie tun“ als Waffe gegen die Weimarer Justiz

Von Maximilian HuschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Huschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ließe sich mit Kurt Tucholsky kurzfassen: „Ich bin für das Buch von Ottwalt und seine Verbreitung. Es geht uns alle an.“ – So in dieser Ausgabe des Romans mit abgedruckt. Nur bliebe man dann noch eine Begründung schuldig, die nicht zuletzt wegen der historischen Distanz zur Erstveröffentlichung notwendig ist.

Ursprünglich veröffentlichte Ernst Ottwalt Denn sie wissen was sie tun 1931 im Malik-Verlag, etwa zu der Zeit, in der er mit Bertolt Brecht auch das Drehbuch für Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt? schrieb. Das Buch, das „kein Schlüsselroman“ sein will, führt in zehn Kapiteln, die nicht immer chronologisch linear arrangiert sind und auch sonst nicht zwingend aneinander anschließen, das Leben Friedrich Wilhelm Dickmanns vor. Als Student der Rechte, später Assessor, dann Amtsgerichtsrat und schließlich Landgerichtsrat, ist die Figur Dickmann „nur insoweit Phantasieprodukt, als zu ihr kein bestimmter deutscher Richter Modell gestanden hat“, wie Ottwalt im Vorwort bemerkt. Die geschilderten Fälle hingegen seien alle „als Tatsachen aus den Jahren 1920-1931 belegbar“; man solle sich an den Verlag wenden, wenn es Zweifel an diesem „dokumentarischen Charakter“ gäbe.

Dickmann, der als „eine Gestalt mittlerer Größe“ eingeführt und damit auch schon hinreichend beschrieben ist, trägt den Widerspruch seines Milieus aus: Als Sohn eines Landgerichtsrats studiert er in Jena Jura, ist auf der Suche nach der Gerechtigkeit und fragt seine Kommilitonen direkt, wie sich „die Haltung der Gerichte eigentlich mit der allgemein anerkannten Gleichheit vor dem Gesetz“ verträgt, immerhin ist selbst Dickmann klar, dass die Weimarer Justiz rechts schlechter sieht als links. Sein Glück, dass sie ihn nur schallend auslachen und nicht augenblicklich lynchen, immerhin sind sie allesamt sich aristokratisch gerierende, gutbürgerliche Nationalisten, denen eine Parteinahme für die Geknechteten dieser Erde kein Beweis besonders guter Moral ist. Auch wenn derartige Zweifel, dass es sich nicht so verhält, wie es sollte, immer wieder an Dickmanns Selbstverständnis nagen, siegen doch stets seine Ignoranz und Herkunft: Es ist gut, dass die Angestelltentochter, die er schwängert, beim von ihr selbst vorgenommenen Versuch der Abtreibung stirbt, immerhin hätte der Eingriff für sie und ihn, wenn er denn geholfen hätte, nur einen Prozess bedeutet; es ist gut, dass sein Vater sich gegen die jüdische Anwaltsgehilfin entscheidet, die ihn vor die Wahl stellt, für das Richtige oder seine Klasse einzustehen, denn es nützt ja nichts, „über Dinge nachzudenken, die doch nicht zu ändern sind“; es ist gut, dass Walther Rathenau umgebracht wird, denn auch wenn Dickmann die Tat an sich verurteilt, ist sie richtig, wird sie an diesem Juden verübt, der „infolgedessen ein Schwein ist.“ So biegt sich Dickmann die eigenen moralischen Ansprüche zurecht, dass sie zu seiner Situation passen, bis er an ihnen verzweifelt und mit einer Alkoholvergiftung im Krankenhaus landet.

Dass mit dem Roman eine - nach Ottwalts eigenen Worten - „Waffe im Klassenkampf“ vorliegt, lässt sich also damit rechtfertigen, dass die Abgründe der formal republikanischen Justiz aufgedeckt werden. Arbeiter, die betteln müssen, weil sie sonst verhungerten, werden mit Gefängnisstrafen belegt, während putschende monarchistische Generäle freigesprochen werden. Dickmann selbst ist als Burschenschafter an der Erschießung von aufständischen kommunistischen Arbeitern während des Kapp-Putsches beteiligt, wird aber ebenfalls freigesprochen: Fluchtversuch der Gefangenen. Tötet hingegen ein Arbeiter einen Kappsoldaten: „Mord, fünfzehn Jahre Zuchthaus.“ Nicht die aufgewiesene Doppelmoral der Richtenden ist das Erschreckende, sondern das Versagen des bürgerlich-republikanischen Staates angesichts einer durch und durch monarchistischen Beamtenschaft. Das Amt ist augenscheinlich nicht vom Menschen zu trennen.

Tucholsky ist nicht der einzige Rezensent, der auf die Erstveröffentlichung des Romans reagierte, es scheint jüngst der Willkür des Herausgebers unterlegen zu haben, dass er nur dessen Rezension in die Neuausgabe mit aufnahm, was ihm durchaus vorgeworfen werden kann. Georg Lukács schrieb in der Linkskurve, der Zeitschrift des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, gegen Ottwalts Roman an und löste einen kurzen verbalen Schlagabtausch mit ihm aus, der nicht zuletzt äußerst aufschlussreich für Lukács‘ Position und indirekt wegen dessen Einfluss für die Konzeption eines sozialistischen Realismus ist. Auch wenn Lukács Ottwalts Anliegen eines Romans, den man rückblickend wohl als naturalistisch-engagierte Literatur fassen könnte, als Waffe des Proletariats im Klassenkampf billigt, greift er dessen Form an, die er als Reportage bezeichnet. Die Wiedergabe von bloßen Fakten anstatt der Gestaltung von Typischem, wie es in den großen bürgerlich-realistischen Romanen stattgefunden habe, greife nur an der gesellschaftlichen Erscheinung an und gelange somit nicht zum Wesentlichen: der Einsicht, dass „die ‚bewegenden Ursachen‘ von Gesellschaft und Geschichte ‚durch die Köpfe‘ der Menschen wirken“. Reportage sei deshalb die „fetischistische Auseinanderreißung der Wirklichkeit, die Unfähigkeit, in den ‚Dingen‘ des gesellschaftlichen Lebens Beziehungen von Menschen (Klassenbeziehungen) zu sehen“. Die Aufgabe des Realismus bestehe aber gerade darin, das Wesentliche im Konkreten aufzuspüren und in der Darstellung Typisches zu gestalten, indem vom Unwesentlichen abstrahiert wird. Dabei hält sich Lukács ganz an Lenin, für den die Abstraktion der Königsweg zur Wahrheit war. Schnell dürfte klar sein, dass Lukács hier weniger Ottwalt als eine ganze Tendenz in der Literatur der Weimarer Republik angreift, die von Egon Erwin Kisch über Irmgard Keun bis Erich Maria Remarque reicht und sich im Groben mit der Neuen Sachlichkeit deckt. Lukács‘ Einspruch beruht, wenn man ihn nachvollziehen will, jedoch auf der Annahme, nur durch Gestaltung des Typischen ließe sich Wesentliches zeigen. Indessen ist Ottwalts Behauptung konträr die, dass es einer Gestaltung nicht bedürfe, um das Wesen der Weimarer Justiz zu erkennen. In Anbetracht des Eindrucks, den Ottwalts Roman hinterlässt, kann man ihm nur zustimmen. Die Figuren wie Dickmann, denen Lukács noch vorwirft, sie seien wegen der Darstellungsform konturlos, sind dies tatsächlich, weil sie es sein sollen. Dass Dickmann eben kein „besonders bösartiger Mensch“ ist und generell kein Charakter, sondern „Produkt von Erziehung, Kaste und System“, stellte bereits Tucholsky in seiner Rezension heraus. Dickmann ist bloß ein Rädchen in der „Fabrik“ der Weimarer Justiz und gerade dadurch typisch, weil es alle in dieser „Maschine“ sind. Um mit Lukács gegen ihn selbst zu reden: die Erscheinung ist typisch, weil sie standardisiert ist, und weist deshalb auf das Wesentliche: den Standard. Gestaltung wird in dem Maße obsolet, wie sie Reales verhandelt, das im Einzelnen allgemein ist.

Ist die Stärke des Romans seine Kopplung an die Realität, gegen die er sich wendet, wird die Frage akut, weshalb Denn sie wissen was sie tun heute gelesen werden sollte. Weimar ist nicht Berlin, der heutige juristische Apparat nicht mit monarchistischen Nationalisten besetzt. Die Konkretion des Stoffs, wegen der er unzeitgemäß scheint, lässt ihn jedoch gerade insofern aktuell werden, als die von ihm geschilderte Gefahr eine ist, die jede bürgerliche Ordnung bedroht. Im Konkreten liegt das Allgemeine. Das geschilderte Unrecht muss Warnung vor dem Potenzial der Regression sein, das keine republikanische Ordnung, ob ihrer Form, im Stande ist so einzuhegen, dass es nicht aktualisierbar wäre. Außerdem, das sollte der Ausflug zu Georg Lukács gezeigt haben, stellt der Roman die Frage, wie realistische Literatur gestaltet sein kann – wobei dies immer an die Realität, die dargestellt werden soll, geknüpft ist. Der Realismus Tolstois kann weder der Ottwalts sein noch der gegenwärtiger Autoren.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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Ernst Ottwalt: Denn sie wissen was sie tun.
Verlag Das kulturelle Gedächtnis, Berlin 2017.
352 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783946990123

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