Reisen bildet, muss aber nicht schön sein

Szczepan Twardoch erkundet die Grenzen des Schreibens

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Soll uns Literatur trösten? Drei Romane von Szczepan Twardoch liegen auf Deutsch vor: Morphin (2012), Drach (2016) und Der Boxer (2018). Tröstlich ist keines dieser Werke. Sie nehmen die Geschichte Schlesiens und Polens ebenso in den Blick wie den katastrophalen Geschichtsverlauf des 20. Jahrhunderts.

Auf den ersten Seiten seiner nun erschienenen Aufzeichnungen mit dem Titel Wale und Nachtfalter. Tagebuch vom Leben und Reisen notiert Twardoch, wie sehr ihn Cormac McCarthys Roman Die Straße in den Bann zieht. Er hat ihn bereits auf Polnisch gelesen – „in der ausgezeichneten Übersetzung von Robert Sudol“ –, doch in der Originalsprache kommt er ihm „stärker vor“. McCarthys Roman spielt in einer Welt nach der Apokalypse; kannibalistische Horden ziehen durch eine verseuchte Landschaft auf der Suche nach Beute, ein Vater und sein Sohn versuchen, der unausweichlichen Bedrohung zu entkommen. Der Roman setze auf elementare Emotionen und Instinkte, „doch warum sollte das seinen Wert schmälern?“ McCarthy schreibe „vom bedingungslosen Menschsein, vom Zweifel, von der Feigheit, vom Tod und Liebe, vom Willen zum Überleben. Und zugleich ist sein Buch, was Literatur sein soll: eine Geschichte, die Angst macht.“

Wale und Nachtfalter sind für Twardoch Symbole von Tod und Vergänglichkeit, aber auch von Schönheit. So bescheinigt der Autor den „sterblichen Überresten“ der Wale eine Würde, die dem toten Körper des Menschen fehle. Auf Nachtfalter trifft Twardoch am Chöwsgölsee in der Mongolei. Ihre toten Körper bilden auf dem Wasser einen weißen „Pelz“. Es sind „Tausende, Hunderttausende, Millionen, ich weiß es nicht.“

Vordergründig berichtet Wale und Nachtfalter von allem Möglichen: dem Gang zum Bäcker am Morgen, begleitet von der ersten Zigarette; Gesprächen mit seinem etwa vierjährigen Sohn, die nicht immer kindgerecht erscheinen, so etwa über die Seele, die sich nicht heilen lässt, oder über ein Selbstporträt Albrecht Dürers; und nicht zuletzt davon, dass Twardoch die Existenz als freier Schriftsteller als die einzig mögliche Lebensform erscheint. Wollte man die Quintessenz des Buches benennen, so wäre sie der allgegenwärtige Tod.

Auf einem Friedhof am Ende der Welt entdeckt Twardoch „das Grab eines einjährigen Mädchens, Jahrgang meiner Mutter.“ In Twardochs Romanen wird ausgiebig gestorben, häufig grausam und immer ohne metaphysischen Rückhalt. Der Friedhof liegt in Barentsburg, das wiederum zu Spitzbergen gehört und zum russischen Hoheitsgebiet zählt. Im Mai 1951 wurde das Mädchen hier begraben: „Ihre Eltern, der tatarische Vater und die uns unbekannte Mutter, müssen untröstlich gewesen sein, denn auf den Tod eines Kindes haben weder Allah noch der christliche Glaube eine tröstende Antwort, von Marx und Lenin ganz zu schweigen.“ Nein, Twardoch ist kein abgründiger Pessimist, denn ein solcher kann kein so liebevoller Vater sein, als der er sich in mehreren Passagen seines Buches zu erkennen gibt. Aber die materielle Sicherheit sowie die Unabhängigkeit als Schriftsteller bedeuten nichts angesichts der allzeit drohenden Katastrophe. Denn nach der radikalen Absage an Tröstungen irgendwelcher Art werden die Grenzen dessen ausgelotet, was sich für ihn noch schreiben lässt: „Davon (dass es keinerlei tröstende Antwort auf den Tod des eigenen Kindes gibt, K.-J. M.) bin ich überzeugt, denn mein Sohn ist jetzt genauso viele Monate alt wie diese kleine Polar-Tatarin, als sie starb, und ich weiß, dass ich keine Antwort fände, sollte passieren, was ich nicht zu schreiben wage.“

Twardoch provoziert gerne und gibt oft den wilden, nicht mehr ganz jungen Mann (er ist 1979 geboren); seine Romane aber beschäftigen sich mit dem, was er noch zu schreiben wagt, weil es sein kleines bürgerlich-familiäres Glück nicht zerstört. Aber er weiß, dass dies jederzeit geschehen kann – und dieses Wissen überträgt sich auf seine Literatur und macht sie lesenswert. Wale und Nachtfalter darf als Einführung in das Romanwerk des polnischen Autors gelten. Ein Werk, das keinerlei politischen Anspruch erhebt, wenn ein solcher darin bestünde, Geschichte zu erklären, um daraus zu lernen: „Hinter dem, was ich gesehen habe, verbirgt sich nichts, es gibt keine Zeichen der Zeit, es gibt nur ein ausgedehntes Universum des Unerkennbaren.“

Titelbild

Szczepan Twardoch: Wale und Nachtfalter. Tagebuch vom Leben und Reisen.
Übersetzt aus dem Polnischen von Olaf Kühl.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2019.
256 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783737100663

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch