Vierzig Fragen und noch mehr

Valeria Luiselli schildert mit „Archiv der verlorenen Kinder“ eindrucksvoll nicht nur die gegenwärtige Migrationspolitik der USA

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seitdem Präsident Trump seinen Wählern die Mauer zu Mexiko versprochen hat, ist das Drama der „verlorenen Kinder“ immer wieder thematisiert worden. Zwischen 2013 und 2018 flohen etwa 200.000 unbegleitete Minderjährige aus Mittelamerika über Mexiko in die USA. Mehr als hunderttausend wurden von der Border Patrol gleich zurückgeschickt, meist Mexikaner, da sie keinen Rechtsanspruch auf den Verbleib haben. Den Leidensweg auf überfüllten Zügen, mit Schleppern, durch die Wüste, unter ständigen Gewaltandrohungen hat der mexikanische Autor Juan Pablo Villalobos bereits in einem eindringlichen Buch aufgezeichnet, in dem er zehn junge Menschen interviewt und portraitiert (Ich hatte einen Traum. Jugendliche Grenzgänger in Amerika). Wenn sie es dann über die Grenze geschafft haben, vielleicht Verwandte oder sogar Eltern gefunden haben, müssen sie die nächste Hürde überwinden: Sie müssen die offiziellen Befragungen der Einwanderungsbehörden korrekt beantworten, um nicht wieder ausgewiesen zu werden.

Oft verstehen die Jugendlichen diese Fragen gar nicht und brauchen dabei Hilfe. Die Mexikanerin Valeria Luiselli, die in New York lebt, arbeitete als Dolmetscherin für die Betroffenen und publizierte 2016 einen Bericht darüber (Tell Me How It Ends. An Essay in 40 Questions). Das Thema ließ sie fortan nicht mehr los, nahezu obsessiv beschäftigte sie sich mit Einzelschicksalen, half, wann und wie sie konnte, recherchierte und sammelte Informationen, die sie in verschiedenen Schachteln sammelte. Als ihr Mann vorschlug, eine Reise mit ihren beiden Kindern – ihre Tochter fünf, sein Sohn zehn Jahre alt – in die Grenzregion zu Mexiko zu machen, da er Geräusche und Stimmen und Material über die vom Untergang bedrohte Kultur der Apachen sammeln wollte, stimmte sie gleich zu. Sie wollte die für sie brennende Problematik der auf sich selbst gestellten bzw. verlorenen Kinder vor Ort erleben.

Diese Reise einer Patchwork-Familie steht im Zentrum von Luisellis Roman Archiv der verlorenen Kinder. Jedes Familienmitglied hat eine Schachtel (der Mann auch mehrere), in der wichtige Dinge aufbewahrt sind: Bücher, Notizblöcke, Landkarten, CDs usw. Schon bald stellt sich heraus, dass es in der Beziehung kriselt, aber dennoch gibt es harmonische Momente, gute Gespräche, schöne Erfahrungen, vor allem mit den Kindern. Geschickt baut die Autorin nun Fragmente aus ihren Lektüren ein, die als intertextuelle Bezüge zum Nachdenken einladen, hinzu kommen die vielen neuen Eindrücke der Reise, die Struktur ist abwechslungsreich und immer wieder überraschend. Während der Vater begeistert über die Apachen und ihren langen Kampf um die Wahrung ihrer Rechte erzählt, liest die Mutter aus dem Buch Elegien für verlorene Kinder, einem fiktiven Werk, das vermutlich auf Luisellis eigenen und im Essay bereits skizzierten Recherchen beruht. Wir sehen heruntergekommene Motels, einsame Straßen, besuchen einen Friedhof der Apachen und erleben eine Abschiebung auf einem versteckten Flughafen… Und dazwischen steht die Selbstbefragung der Erzählerin über das vermutliche Scheitern ihrer Ehe – was hat sie falsch gemacht, was hat er falsch gemacht, konkurrieren ihre Berufe zu sehr oder haben sie sich voneinander entfremdet?

Kunstvoll vermischt die Autorin die Familiengeschichte mit den Erkundigungen über die Apachen und die Migranten. Die beiden Kinder erleben alles intensiv mit – so intensiv, dass sie eines Tages beschließen, sich selbst auf die Suche nach den guatemaltekischen Schützlingen der Mutter zu begeben, denn sie hatten Telefonate mitgehört. Die Eltern sind alarmiert und verzweifelt. Inzwischen hat auch die Erzählperspektive gewechselt: Jetzt berichtet der Sohn, der die Erinnerungen an diese Reise für die „kleine Schwester“ mit dem Tonband aufzeichnet und die Erlebnisse durch Fotografien mit seiner Polaroid, die am Ende des Buches abgedruckt sind, unterstützt. In einem langen Monolog fasst der Junge das Abenteuer zusammen, der Leser folgt nahezu atemlos.

Valeria Luiselli hat in diesem Roman vieles verknüpft, und das höchst gelungen: Es ist ein eminent politisches Buch, das den Leser wütend und betroffen macht und eindrucksvoll die aktuelle Notlage der illegalen Emigrantenkinder zeigt. Es ist ein emotionales Buch, indem es vom Scheitern einer Beziehung erzählt. Es enthält interessante Überlegungen über eine moderne Beziehung oder das Verhältnis zu Kindern – die Gespräche mit ihnen sind immer wieder verblüffend und aufschlussreich. Zudem ist es ein intellektuelles Werk, denn es spielt gekonnt mit unterschiedlichen literarischen Bezügen, deren Originale in den „Schachteln“ aufgelistet sind. Man liest den Roman dabei mühelos, er ist spannend und überzeugt auch durch die überaus kreative Romanstruktur. Luiselli (*1983 in Mexiko), die bereits zwei Romane und Essays auf Spanisch publiziert hat, hat einen äußerst bewegenden und faszinierenden Roman vorgelegt, dem sehr viele Leser zu wünschen sind.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Valeria Luiselli: Archiv der verlorenen Kinder.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit.
Verlag Antje Kunstmann, München 2019.
432 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783956143144

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