Stalin und sein Vorkoster

Der Roman „Guten Morgen, Genosse Elefant“ von dem britischen Autor Christopher Wilson, versetzt uns in die Sowjetunion im Jahre 1953, in die letzten Tage Josef Stalins und die damit einhergehenden Machtkämpfe um seine Nachfolge

Von Mathieu GeersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mathieu Geers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erzähler und Hauptfigur des Romans ist Juri Zipit, zwölfjähriger Sohn des Veterinärmediziners des Hauptstadt Zoos in Moskau. Juris frühe Kindheit wurde von Unglücken gekennzeichnet. Nicht nur wurde die Mutter Opfer der Stalinschen „Säuberungen“, Juri erlitt im Alter von 6 Jahren einen schwerwiegenden Verkehrsunfall. Sein Gesicht ist entstellt, sein Gehirn beschädigt. Der bloße Anblick seines Gesichtes sowie seine naive und unschuldige Art führen unerklärbarer Weise dazu, dass die Menschen ihm all ihre Geheimnisse preisgeben. Zum Verhängnis wird ihm dies als eines Abends sein Vater zu einem mehr als außergewöhnlichen Patienten berufen wird. Den Veterinärmediziner erwartet kein Tier, nein, ihn erwartet der „Große Vater“ der Sowjetunion, Josef Stalin, der in seinem Wahn nicht mal mehr weiß, Ärzten zu vertrauen und in jedem einen Feind sieht. Die Diagnostik fällt, Stalin liegt nach einem schweren Schlaganfall im Sterben. Doch unmöglich scheint dies für den selbsternannten Gott Stalin. Juris Vater muss verschwinden und Juri freundet sich gegen seinen Willen mit dem „Großen Vater“ an. Er wird sein Vorkoster und Vertrauter und erlebt hautnahe die Machtspiele rund um Stalins Nachfolge. So beginnen für den jungen Juri turbulente Wochen in Stalins Datscha und eine aufwühlende Suche nach seinen verschwundenen Eltern.

Die sowjetische Utopie Stalins entpuppt sich als ein Land, in dem die Freiheit verdammt scheint, Illusion zu bleiben. Der „Große Vater“ erweist sich als ein wahnsinniger Greis im Endstadium seines Lebens. Das, was Juri in Stalins Datscha als Vorkoster erlebt, und die intimen Geständnisse, die ihm Stalin anvertraut, führen bei ihm zu einer regelrechten Entmystifizierung der doch so scheinbar glorreichen kommunistischen Sowjetunion. Eine kommunistische Sowjetunion der Einschränkungen, die den Menschen aufgezwungen wird, obwohl selbst ihr Anführer und ihre Minister sich von den neusten Materialien aus dem Westen sorglos erfreuen. Wenn Stalin, während einer seiner zahlreichen Filmabende, sich der neusten Hollywood-Western erfreut, macht der Roman deutlich wie sehr der Kommunismus nicht mehr aus Überzeugung geführt wurde, sondern einzig aus Machtinteressen. Wie in George Orwells 1984 kommt es zum „Verschwindenlassen“ von Personen, zum „Vaporisieren“ von Informationen, zur Umgestaltung der Vergangenheit zugunsten des totalitären Regimes der kommunistischen Partei. Uns wird eine Sowjetunion gezeigt, die bei weitem keine Utopie mehr zu sein scheint, sondern ganz im Gegenteil, eine Dystopie, die leider nicht Fiktion blieb. Von dem allen wird Juri Zeuge, vor dem allem muss auch er sich in all seiner Unschuld beugen, hilflos unter dem Joch der stählernen Diktatur, die, wie ihr Anführer, mehr Wahnsinn als Vernunft walten lässt.

Nicht nur erzählt der Roman eine spannungsreiche und emotionsgeladene Geschichte, er ermöglicht uns auch einen interessanten Einblick in das totalitäre Vorgehen der hohen Vertreter der Sowjetunion der Nachkriegsjahre und liefert zudem an manchen Stellen einen historisch realen Ablauf der letzten Tage Stalins. Interessant wird der Roman nämlich dort, wo er sich historischer Authentizität erfreut, die mithilfe der Fiktionalität des Werkes, die man unter keinen Umständen vergessen darf, emotionalisiert wird. Denn vor allem das Schicksal Juris und seine Suche nach den Eltern führen zu einem herzzerreißenden Abschluss. So schafft es Christopher Wilson eine harmonisierende Balance zwischen fiktionalen Elementen und wahren Begebenheiten zu kreieren, die nicht nur die Aufmerksamkeit des historisch interessierten Romanlesers auf sich zieht, sondern einem breiten Publikum gefallen kann.

Es mag zwar kein großer literarischer Wert in der sprachlichen Gestaltung des Romans stecken, doch darauf scheint es bei dem in Deutschland weitaus unbekannten Autor Christopher Wilson nicht anzukommen. Er wollte über eine Dystopie und die Manipulation von Informationen schreiben und fand dafür als Musterbeispiel Stalin, dessen dubiose Ereignisse rund um seinen Tod ihn zusätzlich dazu reizten, seine letzten Tage fiktiv aufzuarbeiten.  Der Unterhaltungswert, sowie die fiktionale und spielerische Aufarbeitung von historischen Begebenheiten stehen in seinen Werken im Vordergrund und können im Falle von Guten Morgen, Genosse Elefant durchaus dazu führen, dass der Leser sich mit seiner eigenen Gegenwart konfrontiert, die am Beispiel der Volksrepublik Chinas zeigt, dass die Prinzipien Stalins nach seinem Tod nicht zugrunde gingen, sondern traurigerweise ihren Nachfolger gefunden haben.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2020 entstanden sind und gesammelt in der Septemberausgabe 2020 erscheinen.

Titelbild

Christopher Wilson: Guten Morgen, Genosse Elefant. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Bernhard Robben.
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018.
266 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783462050769

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