Der Mut zur Umkehr
Beau Riffenburghs Buch über Ernest Shackletons "Nimrod"-Expedition bringt Licht ins antarktische Dunkel
Von Rolf-Bernhard Essig
Er war offensichtlich dem Genius des Frostes verfallen, der in Henry Purcells Oper "King Arthur" so eindrucksvoll bibbernd singt: "Let me freeze again to death!" Und doch: Wie oft muss Ernest Shackleton (1874-1922) den verführerischen Frostgesängen widerstanden haben, wenn er wieder einmal den Weg durch Eiswüsten suchte, wenn Temperaturstürze, Schneestürme, ein Chaos von Gletscherspalten und nagender Hunger den Erfrierungstod als willkommenes Ende aller Leiden erscheinen ließen!
Schon auf seiner ersten Antarktisreise in den Jahren 1901-1903 bekam er einen Vorgeschmack auf den eisigen Tod. Trotz der Gefahren kehrte Shackleton wenige Jahre später zurück, um den unbekannten Kontinent weiter zu erforschen und als erster Mensch den Südpol zu erreichen. "Nimrod" hieß sein Schiff, und so heißt auch das Buch von Beau Riffenburgh, das erstmals nach hundert Jahren die hoch dramatischen Ereignisse, die reichen wissenschaftlichen Ergebnisse dieser Expedition und damit auch ihren Leiter ins recht Licht rückt: den legendären Polarforscher und (seit 1909) Sir Ernest Shackleton.
Genauso spannend wie gut drei Jahre später der "Wettlauf zum Pol" Roald Amundsens und Robert Falcon Scotts ist auch die "Nimrod"-Expedition. Ja ohne sie und Shackleton, der den Weg zum südlichsten Punkt wies, wäre er so gar nicht möglich gewesen.
Fast übermenschliche Anstrengungen und dauernde Lebensgefahr nahmen er und seine drei Kameraden auf sich, während sie sich weiter südwärts quälten als je ein Mensch zuvor. Nur 97 Meilen trennten sie vom Ziel, als Shackleton gerade noch rechtzeitig den Rückzug befahl. Fast prophetisch hatte er seiner Frau Emily über den Abschiedsmoment geschrieben: "Mein Kind, es war ehrlich und wahrhaftig der schlimmste, herzzerreißendste Augenblick in meinem Leben: Wenn es mir nicht gelänge, den Pol zu erreichen, wenn ich zehn Meilen vorher umkehren müsste, meine Traurigkeit könnte nicht so groß sein, wie sie in diesen wenigen Minuten zusammengedrängt war."
Shackleton und die Seinen hätten wohl den Pol und größten Ruhm erreichen können, doch nur um den Preis ihres Lebens. Die scheinbar unheroische Tat der Umkehr kurz vor dem Ziel aus Gründen der Sicherheit ist deshalb vielleicht Shackletons eindrucksvollste.
Obwohl ihm seine Sympathie gehört, macht Riffenburgh seinen Helden jedoch nicht zum Eisheiligen. Er schreibt von Shackletons Redseligkeit, seiner Ungeduld und Wissenschaftsferne, den romantischen Vorstellungen und einer gewissen Borniertheit, die ihn Ratschläge des erfahrensten Polforschers Fridtjof Nansens in den Wind schlagen ließ. Dass Shackleton weder Schlittenhunde noch Skier mit auf den Weg in den Süden nahm, kostete ihn höchst wahrscheinlich den Triumph und beinahe das Leben.
Faszinierend detailreich, ausführlich und fundiert schildert der Polarexperte Riffenburgh Shackletons Leben bis zur "Nimrod"-Expedition und dann diese selbst. Wichtiger noch, er bettet beides ein in die kollektive Pol-Hysterie nach 1900 und in das geistige Umfeld des britischen Empire. Vor allem die häufigen Quellenzitate und eine manchmal filmische Montagetechnik machen die Lektüre zu einem anregenden Genuss.
Die Strapazen der damaligen Polarforscher mit ihrer ungenügenden Ausrüstung wird bei Riffenburgh besonders plastisch. Der Verlust von erfrorenen Zehen war dabei nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich war aber, dass Shackleton auf dieser wie auf den folgenden Antarktis-Expeditionen keinen seiner Leute verlor. Ein Großteil seiner legendären Führungsqualitäten bestand darin, sich um jeden Einzelnen zu sorgen. Obwohl selbst am Verhungern, drängte er seinem schwächeren Kameraden Frank Wild einen Keks seiner Ration auf. Der notierte: "Shackleton drängte mir beim Frühstück heimlich seinen einzigen Keks auf und hätte mir heute Abend noch einen gegeben, wenn ich es zugelassen hätte.... Gott ist mein Zeuge, dass ich es nie vergessen werde. Mit keinem Geld der Welt hätte man diesen einen Keks kaufen können."
Riffenburghs Buch bietet also weit mehr als menschliche Dramen im Eis. Es bietet ein geistiges Porträt des britischen Empires, dazu en passant Ratschläge für Personalführung und vor allem spannende Lesestunden.