Als die Literatur noch wichtig war
Über Helmut Böttigers Buch „Die Gruppe 47“
Von Norbert Kuge
Der Mythos Gruppe 47 lebt, so könnte man angesichts der zahlreichen Rezensionen und Berichte zu diesem Buch von Helmut Böttiger und zu den fast gleichzeitig erschienenen Tagebüchern von Hans Werner Richter glauben. Noch 45 Jahre nach ihrer letzten Sitzung bieten die Gruppe und die aus ihr hervorgegangenen beziehungsweise bekanntgewordenen Schriftsteller immer noch genügend Stoff für kontroverse Diskussionen innerhalb und außerhalb des Literaturbetriebes – und sei es durch Günter Grass, Martin Walser oder Peter Handke, die nicht nur mit ihren literarischen Werken, sondern insbesondere durch ihre eigensinnigen und oft provokanten Äußerungen zu politischen Themen im Zentrum von Debatten standen.
Woher kommt diese umstrittene Sicht vieler Kritiker und Anhänger? Helmut Böttiger, Literaturkritiker und Experte der deutschen Nachkriegsliteratur, spricht in seiner Einleitung von einem durch den Literaturbetrieb umgehenden Gespenst mit Namen Gruppe 47 und nennt auch den Referenzrahmen: „Literatur zwischen Markt, Macht und Medien“. Böttiger distanziert sich von einer emotionalen Auseinandersetzung über die Gruppe und beschreibt sie „als ein historisches Phänomen, mit all seinen wichtigen und zum Teil auch zwiespältigen Folgen.“
Der Beginn war überhaupt nicht spektakulär. Vielmehr war der Anfang der Gruppe bescheiden und bestand aus einem kleinen Kreis von Freunden Hans Werner Richters. Ausgangspunkt war die 1946 gegründete Zeitschrift „Der Ruf“, bei der Hans Werner Richter, Alfred Andersch und Werner Kolbenhoff Mitarbeiter waren. Nachdem man Richter und Andersch wegen zu kritischer Artikel gekündigt hatte, suchten beide nach einer anderen Möglichkeit, ihre Vorstellungen von Literatur umzusetzen. So kam es dann zur ersten Tagung am Bannwaldsee. Der Gruppename wurde in Analogie zur amerikanischen Gruppe 98 gewählt, man wollte keine Einschränkung oder Festlegung durch einen programmatischen Namen, die bloße Jahreszahl sollte genügen. Anfangs gab es jährlich zwei Tagungen, zu denen Hans Werner Richter einlud. Man tagte nicht an spektakulären Orten, sondern Hans Werner Richter bevorzugte abgelegene Landgasthäuser oder kleine Orte. Ein erster Höhepunkt war sicher 1952 in Niendorf, als Ingeborg Bachmann und Paul Celan lasen und danach in der literarischen Öffentlichkeit bekannt wurden. Böttiger weist die mit dieser Tagung zusammenhängenden Antisemitismusvorwürfe zurück beziehungsweise relativiert sie. Es war sicher eine grobe Taktlosigkeit von Richter, bei dem Mittagessen in kleinem Kreis die Stimme Celans mit der von Goebbels verglichen zu haben, aber deshalb die Gruppe unter generellen Antisemitismusverdacht zu stellen, wie es Klaus Brieglieb getan hat, gehe dann doch zu weit.
Zwar hat Paul Celan Hans Werner Richter diesen Vergleich nie verziehen, gleichwohl hatten sie danach noch lange freundschaftlichen Kontakt. Zu den Gruppentagungen jedoch ging Celan trotz mehrfacher Einladung nie mehr. Wie aus den bereits veröffentlichten Briefwechseln Celans hervorgeht, hat er vor allem Ingeborg Bachmann nachgetragen, dass sie 1952 den Preis der Gruppe erhielt und als der große Star aus der Tagung hervorging.
Mit dem wachsenden Erfolg, Ansehen und Vernetzung der Gruppe beziehungsweise ihrer Teilnehmer traten einflussreiche Kritiker wie F. Sieburg, H. E. Holthusen, G. Blöcker oder Krämer-Badoni in den Feuilletons der Zeitungen ihnen entgegen und kritisierten die von ihnen vertretene Literaturauffassung. Die Motive waren vielfältig. Sicher spielte die Tatsache eine Rolle, dass diese Kritiker selbst nie eingeladen wurden und die Gruppe sich dezidiert gegen die von Sieburg und den anderen präferierte Literatur und deren konservative politische Anschauung aussprach. Einen weiteren Angriffspunkt bot die sich bereits damals abzeichnende Vernetzung der Gruppenmitglieder. Einige Gruppenmitglieder A. Andersch, E. Schnabel, M. Walser hatten einflussreiche Stellen im Rundfunk oder schrieben für Zeitungen, Zeitschriften etc. wie Joachim Kaiser oder hatten Kontakte in die Verlage.
Der absolute Durchbruch im Ansehen der Gruppe gelang aber 1958 mit der Lesung von Günter Grass aus der damals entstehenden Blechtrommel. Als 1959 „Die Blechtrommel“, Uwe Johnsons „Mutmaßungen über Jakob“ und Heinrich Bölls „Ansichten eines Clowns“ erschienen, hatte die deutsche Literatur wieder Anschluss an die Weltliteratur gefunden und war gleichzeitig der Mythos der Gruppe 47 geboren. Danach war die Gruppe im Literaturbetrieb endgültig etabliert und, so paradox es scheinen mag, es war eigentlich auch schon ihr Höhepunkt und trug gleichzeitig bereits den Keim für das Ende der Gruppe in sich.
Wie Böttiger sehr schön zeigt, war es die völlig neue Medienkommunikation, die die Gruppe auszeichnete. In diesem Zusammenhang stellt er überraschend H. M. Enzensberger als den eigentlichen Repräsentanten der Gruppe heraus. Enzensberger und nicht Günter Grass habe das repräsentiert, was den Erfolg der Gruppe ausgemacht habe. Eloquent, jede Neuerung aufgreifend und wieder zur nächsten wechselnd, das lebte er zum Entsetzen von Richter aus und prägte damit auch die Außenwahrnehmung der Gruppe.
Neben diesen auch heute noch bekannten Namen ruft uns Böttiger auch einige heute vergessene Teilnehmer ins Gedächtnis. So die erste Gastgeberin, Ilse Schneider-Lengyel, die „Hexe vom Bannwaldsee“ oder Friedrich Minssen. Ansonsten beschreibt Böttiger die Gruppengeschichte vor allem anhand einzelner herausragender Mitglieder und bestimmter zeitlicher Episoden. Waren es für den Beginn Ilse Aichinger, Günter Eich, Heinrich Böll und Ingeborg Bachmann, so waren es für die mittlere, die Erfolgsphase, Günter Grass, Uwe Johnson, Martin Walser, Peter Weiss, die die Gruppe nach außen repräsentierten.
Mit wachsendem Erfolg und Ruhm der Autoren zeigte sich aber auch die Kehrseite. Außer Günter Grass setzte niemand mehr seine Arbeiten vor der Gruppe der Kritik aus, es waren die Neulinge und Außenseiter, die nun lasen, zumal in der Gruppe auch die Kritikerriege die Dominanz übernommen hatte. Die unterschiedlichen politischen Ansichten führten ebenfalls dazu, dass sich die Gruppe fast spaltete. Auf der einen Seite, der politisch gemäßigten Seite, Günter Grass, Hans Werner Richter, Uwe Johnson, J. Becker, auf der anderen Seite standen Peter Weiss, Reinhard Lettau, Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger, die sich immer mehr sozialistisch-kommunistischen Ideen zuwandten und eine scharfe Kritik an den USA propagierten.
Böttiger begründet das damalige Gewicht der Gruppe 47 in der Öffentlichkeit mit den herausragenden Schriftstellern wie Grass, Johnson, Enzensberger, Walser, Eich, Bachmann, Böll sowie den Kritikern Marcel Reich-Ranicki, Kaiser, Mayer. Jens, Höllerer und andere, dies entspricht der tatsächlichen Bedeutung dieser Personen bis heute, andererseits werden dadurch aber die Gruppentreffen und das, was die Gruppe ausmachte, etwas vernachlässigt. Hier hätte man gerne etwas mehr erfahren, denn als die Gruppe aufgehört hatte, waren es viele Autoren, keine Kritiker, die ihren Wunsch nach einer Fortführung der Gruppentreffen mit dem interessanten und anregenden Austausch und dem Zusammenhalt der Schriftsteller begründeten.
Ferner ist es ein wenig schade, dass Böttiger noch nicht das Tagebuch von Hans Werner Richter vorlag, in dem dieser sich sehr deutlich und über die Maßen kritisch über die Stars der Gruppe wie M. Walser, G. Grass, H.M. Enzensberger sowie Marcel Reich-Ranicki, Hans Mayer oder Joachim Kaiser äußerte. Es wurde nach den Auslandstagungen in Schweden und den USA, die zu weiterem Streit in der Gruppe führten, deutlich, dass es vor allem die Kritikerriege der Gruppe der Meinung war, die Gruppe habe sich überlebt und man solle sie auslaufen lassen. Als dann die geplante Tagung in Prag durch den Einmarsch der sowjetischen Truppen unmöglich wurde, war die Entscheidung gefallen.
Hans Werner Richter wurde zwar noch von einigen gedrängt, weitere Treffen einzuberufen, aber es hätte ein völliger Neuanfang sein müssen und dazu war Richter nicht mehr bereit. So endete etwas glanzlos und unspektakulär die Gruppe 47. Sie repräsentierte in einer bestimmten Phase der Bundesrepublik die moderne deutschsprachige Literatur und hat gewiss Literaturgeschichte geschrieben, aber auch ohne sie ging die Literaturgeschichte weiter. Durch sie besitzen wir aber einige herausragende Werke der deutschsprachigen Literatur und es war durch sie eine spannende Zeit der literarischen Neuerungen und Kontroversen, wie sie heute kaum mehr möglich erscheint. Dafür kann man Hans Werner Richter und den vielen Teilnehmern der Treffen nur danken.
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