Ein kontextualisierter Held

Angila Vetter beschäftigt sich anhand von Retextualisierungsstrategien und Sinnproduktion in Sammlungsverbünden mit dem ‚Willehalm‘ in kontextueller Lektüre

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Helden, noch dazu diejenigen, die in gewisser Weise ‚gebrochen‘ oder zumindest auch nicht ‚geradlinig‘ erscheinen, üben und übten immer eine hohe Faszination aus. Dies gilt auch für die Gestaltung von Wolframs Willehalm, einer Figur, die in gewisser Hinsicht vielleicht sogar ‚multikulturelle‘ Züge aufzuweisen vermag. Dies mag dazu geführt haben, dass dieser Text nur ein einziges Mal als Solitär vorkommt und sich ansonsten ausschließlich in Sammelhandschriften findet. Angila Vetter nimmt diesen Tatbestand in den Fokus und weist dabei bemerkenswerte Verbindungen und Quersichten nach.

Zunächst wird, und das ist sicherlich ein kluger Schachzug, um erst einmal den grundsätzlichen Zugang zum Willehalm zu schaffen, der Komplex der Ursprungsdichtung und seiner ‚Epigonen‘ vorgestellt. Dabei geht Vetter auch auf die Entwicklungen in der Forschungsmeinung ein, die in der Tat nicht unerhebliche Veränderungen hinsichtlich von Bewertung und Einordnung gerade der Nachdichtungen durchlaufen hat. So ist der längere Zeit abwertende Habitus gegenüber den Spross- und Umdichtungen des Wolfram’schen Willehalm einer weit komplexeren Sichtweise gewichen, denn „durch die Kompilation des Willehalm und der Ergänzungsdichtungen kreieren die Zyklushandschriften eine Großerzählung vom Leben und Leiden des Markgrafen Willehalm. Dies aber, ohne dass die Ergänzungsdichtungen dezidiert auf die komplexe Poetik des Epos Bezug nehmen“. Hiermit ist grundsätzlich die Zielrichtung der Argumentation vorgegeben, die zum einen darauf abzielt, den ‚ästhetischen Duktus‘ der Bewertung der ‚erweiternden‘ Willehalm-Dichtungen etwas zurückzunehmen, zum anderen deren Bedeutung als Gesamtkomplex hervorzuheben und damit die rezeptive Warte stärker zu betonen. Angemessen und für eine auch weiterreichende Beschäftigung wesentlich ist, dass Vetter dabei immer wieder auf die Positionen der (älteren) Forschung verweist und diese aufnimmt, verwirft oder variiert.

So werden neben dem Bezug auf die Forschungsgeschichte allgemeinere Aspekte vor- beziehungsweise vorangestellt, was zunächst verwundern mag, denn damit fällt die Einleitung verhältnismäßig umfangreich aus. Das ist aber definitiv nicht als unnützer Ballast anzusehen, weil damit – wie erwähnt – die solide Fundierung des Folgenden ermöglicht wird. Und es geht darum, „die Produktivität der unvollendeten Geschichte“ des Wolfram’schen Willehalm deutlich zu machen, dessen offenes Ende ja weitere rezeptive wie produktive Beschäftigung geradezu herausforderte.

Durch die breite Hinführung, die sich primär mit den Fragen der Stoff- und Motivgeschichte beziehungsweise den durch das als herausfordernd empfundene ‚offene Ende‘ des Willehalm nachgerade ‚provozierten‘ Erweiterungen des Textes ergeben hatten, lässt die Autorin (hier wird etwas überdimensioniert formuliert)‚ „theoretische und methodische Vorüberlegungen zur Textualität und Literarizität des Mittelalters“ folgen. Vetter geht es vornehmlich um die diversen Modi der Neu- beziehungsweise Wiedererzählung, die sie dann geschickt mit dem Phänomen der Sammelhandschriften in Beziehung setzt, die im Sinne einer kontextuellen Lektüre programmatischen Charakter besitzen. Damit wird dem zuvor diskutierten textfundierten Ansatz der Meta-Überbau (nach-)geliefert, womit der weitere Weg adäquat begründet ist.

Dieser führt zur expliziten Betrachtung der ausgewählten Willehalm-Sprossdichtungen, die in drei großen Themenblöcken verdichtet sind. Zu Beginn dieser Kernkomplexe wird jeweils ein kurzer Blick auf die Auffindsituation und auch die Bewertungen der entsprechenden Texte gegeben, was die Einordnung des Ganzen in den Fluss der Forschung deutlich erleichtert, wenn nicht gar erst – zumindest unter dem Vermeiden eigenständiger Recherchen – ermöglicht. Im Einzelnen erfolgt die Text-Betrachtung unter den folgenden Aspekten: „Tod und Liebe“, „Höllenfahrt und Fegefeuer“ sowie „Von Herrschern und Heiden, Helden und Heiligen“. Damit wird, basierend auf den Überlieferungen aus den herangezogenen Sammelhandschriften, in der Argumentation die Entwicklung verfolgt, die bereits der Willehalm vorzeichnet und die demgemäß auch den angehängten Dichtungen adäquat sein muss.

Im Zentrum des ersten Fokus steht die antagonistische Paarung Gewalt und Liebe, die schon bei Wolfram als auch seinen Epigonen ein wesentliches, Spannung generierendes Movens darstellt. Im Willehalm ist es die Liebe zwischen dem namengebenden Protagonisten und der edlen Heidin Giburg, die sowohl die Konfrontation als auch deren mögliche Beilegung transportiert. Minne und Minnedienst gehören wie selbstverständlich auch die bewaffnete Auseinandersetzung zum Lebensideal der adeligen Klasse. Bemerkenswert ist hierbei, dass der Frauendienst auch im heidnischen Kontext einen zentralen Wert darstellt; und dies gilt auch für allgemein ritterliche Tugenden, sodass in gewisser Hinsicht eine ‚Universalität der Werte‘ zu beobachten ist, die allerdings im Hinblick auf die transzendentale Dimension an ihre Grenzen stößt. Bei Wolfram bleiben die zum Teil subkutan erschließbaren Spannungen unaufgelöst, im hier vorgestellten Schönsteiner Fragment lassen sich über die erkennbaren Glättungen und Kürzungen neue Perspektiven erkennen, die hinsichtlich der Liebe der beiden Hauptpersonen eine zumindest für den Rezipientenkreis akzeptable Lösung eröffnen.

Wesentlich ‚tiefer gehender‘ sind „Höllenfahrt und Fegefeuer“, wird hier doch in eingehender Weise die heilsgeschichtliche Erweiterung des ‚Miles Christianus‘-Aspekts im Willehalm-Stoff zum Thema gemacht. Vetter weist hier darauf hin, dass die Vergesellschaftung des Willehalm mit einer Abschrift des Evangelium Nicodemi, die offenbar lange Zeit wegen der unterschiedlichen Auffindungsorte der jeweiligen Fragmente nicht erkannt wurde, programmatisch äußerst tragfähig ist. Dies gilt umso mehr, als dieses Evangelium wohl bereits um die Mitte des 13. Jahrhunderts im Thüringer Raum entstanden ist, womit eine zumindest indirekte Verbindung zu Wolfram möglich sei. Ungeachtet dessen passt der heilsgeschichtliche Rahmen zur Figur des Willehalm, der trotz aller Toleranzaspekte, die ja durchaus auch in Wolframs Parzival aufscheinen, letztlich den Weg der über die unabdingbare Umsetzung eines spirituellen Rittertums bedingten christlichen Heilserwartung beziehungsweise -erlangung eingeschlagen hat und diesen idealtypisch vorgibt.

Die sich hierbei manifestierende Gewalttätigkeit wird durch eine makabre Komik einerseits gesteigert, andererseits aufgelöst, um diese wohl auch für das Publikum erträglicher zu machen. Wenn der Zweck auch die Mittel – im wahrsten Wortsinne – heiligen mag, lässt sich die grausame Realität des Krieges wie im wirklichen Leben nur mit Galgenhumor erträglich oder hier vermittelbar machen. Im Zusammenhang mit der Sammelhandschrift wird Humor als Medium der Bewältigung schließlich in einen transzendentalen Kontext transferiert, da im Evangelium Nicodemi der Aspekt des Lachens insofern die Eindimensionalität der situativen Bewältigung hinter sich lässt, als Lachen in der Hölle den Widersacher sogar dahingehend entmachtet, wenn selbst die Untertanen des Teufels diesen verspotten. Hier, so Vetter, ergibt sich ein Ensemble, das nur im Kontext der Sammelhandschrift wirksam und erkennbar wird.

In ihrer Kontextualisierung von „Herrschern und Helden, Heiden und Heiligen“ geht die Autorin auf den Hamburger Codex germ. 19 ein, in dem – analog zum St. Galler Codex, der die Karlsdichtung des Strickers mit dem Willehalm zusammenbringt – Wolframs Dichtung mit Überlieferungen zu Karl dem Großen vergesellschaftet wird. Hier werden Rezeptions- und Interpretationsmuster erschlossen, die wiederum deutlich machen, in welchem Maße bestimmte Stoffe und Stoffkreise im Mittelalter als zusammengehörig empfunden wurden. Das Ideal des christlichen Herrschers ist in Karl dem Großen verkörpert, das des idealtypischen christlichen Ritters in der Gestalt des Willehalm. Die reale historische Auseinandersetzung mit dem Islam, die sich mit der Person Karls des Großen verbindet und deren kriegerischer Aspekt in der literarischen Überlieferung durch den Rolandstoff verdichtet wurde, wird in der späteren Adaption dieser Konfrontation im Willehalm widergespiegelt. Im mittelalterlichen Bewusstsein – sofern bedacht wird, dass dieser Begriff eine nicht unproblematische Vereinfachung konnotiert – waren offenbar die Lektüren der entsprechenden Texte vor allem im Kontext attraktiv.

Dies in den Fokus gestellt zu haben, ist nicht zuletzt der Reiz der vorliegenden Publikation. Angila Vetter gelingt es auf anregende und durch den wiederholten Hinweis auf die Überlieferungs- und Editionslage auch äußerst seriöse Weise, einen Blick auf Interessenlage und Rezeptionsverhalten im Hochmittelalter aufzuzeigen. Bemerkenswert und bedauerlicherweise im real existierenden universitären Lehrbetrieb eher vernachlässigt ist der Blick auf eine erweiterte Ebene der Textedition beziehungsweise letztlich der Textlektüre im Mittelalter, die anscheinend dem Einzeltext allein nicht immer letzte Gültigkeit zuzuweisen vermochte, sondern bestimmte Stoffkreise in thematisch korrespondierenden Sammelhandschriften präferierte. Eine umfangreiche Bibliographie sowie einzelne, zielführende Tabellen und Abbildungen runden den positiven Gesamteindruck ab und machen eine Empfehlung leicht.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Angila Vetter: Textgeschichte(n). Retextualisierungsstrategien und Sinnproduktion in Sammlungsverbünden. Der ‚Willehalm‘ in kontextueller Lektüre.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2018.
392 Seiten, 89,95 EUR.
ISBN-13: 9783503181063

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