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Bodo Kirchhoffs neuer Roman "Wo das Meer beginnt" versinkt im Deskriptiven

Von André HilleRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Hille

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Roman verspricht, wie fast alle Romane, eine Geschichte über die Liebe: Zwei junge Gymnasiasten, Haberland und Tizia, werden im Schulkeller erwischt. Wobei, ob nun Liebesspiel oder Vergewaltigung oder irgendwas dazwischen, das weiß aus dem vom "erstickten Schreien" alarmierten Lehrerkollektiv niemand so recht, doch eben um die Klärung dieser Frage rankt sich die ganze Geschichte in Bodo Kirchhoffs neuem Roman "Wo das Meer beginnt".

Wieder einmal also eine Liebesgeschichte und wieder einmal eine erinnerte, als könne, so hat man das Gefühl, von der Liebe nicht mehr in der Gegenwart erzählt werden.

Kirchhoff steigt mit einem rasanten Monolog des Lehrers Branzger ein, der ebenfalls im Keller als Zeuge zugegen war und im schummrigen Halbdunkel genauso viel oder genauso wenig gesehen hat wie alle anderen Lehrer, Haberland jedoch vehement gegen die Vergewaltigungsvorwürfe einiger verkniffener Lehrerinnen verteidigt. Doch das Erzählkonstrukt ist komplizierter: Haberland, der Ich-Erzähler, sitzt zwölf Jahre nach dem Vorfall am Goethe-Institut in Lissabon und erinnert sich anhand von Protokollen an die langen Gespräche mit Branzger. Dieser schildert dem von der Schule beurlaubten Gymnasiasten die Lehrerkonferenzen (Vergewaltigung oder nicht, Schulverweis oder nicht) en détail. Der Ich-Erzähler (Haberland in Lissabon) erzählt also von einem Erzähler (Branzger), der die ursprüngliche Geschichte (Haberland und Tizia als Gymnasiasten) erzählt. So kompliziert, wie es hier klingt, ist es auch. Und ebenso gekünstelt. Die eigentliche Geschichte wird durch drei Instanzen gespült, bis kaum mehr Farbe von ihr übrig bleibt.

Die ganze Konstellation ist eine reine Kopfgeburt, die Figuren fangen zu keinem Zeitpunkt richtig an zu leben: Das größte Manko der Geschichte liegt in ihrer Indirektheit. Warum wird hier eine Geschichte vermittels eines zwischengeschalteten Erzählers (Branzger) erzählt? Eine unnötige Instanz, die den Autor zu Konstruktionen zwingt, die dem Roman jede Gegenwärtigkeit und Spannung nehmen, zumal die Pointe von Beginn an klar ist.

Und diese Unlebendigkeit der Geschichte versucht Kirchhoff mit Detailversessenheit zu kompensieren: Streckenweise wird Kirchhoff derart überanschaulich, dass es schon wieder unanschaulich wird, weil kein Platz mehr für eigene Imaginationen bleibt. "[Die] Stubenrauchs, er in alarmierend gelbem Anorak, bei sich einen Rucksack, der Königspudel Holger mit grauem Lockenbusch, eine Frisur, die ich schon vor zwanzig Jahren verabscheut habe. Und sie mit kurzem Henna-Haar und einer Reihe Accessoires, um den Anorak wettzumachen [...]".

Oft richtet sich Kirchhoffs Sprache auf nichts anderes als auf die Beschreibung von Details, sie zeichnet wieder und wieder das gleiche belanglose Lehrerkollektiv, ohne voranzukommen. Geradezu zwanghaft verfällt der Autor ins Be-Schreiben und verfängt sich häufig im rein Deskriptiven.

Je genauer Kirchhoff die Szenerie schildert, je mehr er den Leser also packen will, umso enervierender wird es. Wozu diese Pedanterie bei der Beschreibung der Konferenzen? Zumal es sich bei den Lehrern um Nebenfiguren handelt. Man wird den Verdacht nicht los, Kirchhoff stelle seine zuvor entworfenen Charakterstudien aus, weil er sie nun mal geschrieben hat. Für eine Milieuschilderung ist es zu viel, für Hauptfiguren wiederum zu wenig.

Überdies gefallen sich Haberland und Branzger in der Rolle der reflektierenden Intellektuellen: Die dürre Geschichte wird immer wieder aufgebläht von unnötigen Reflexionen über den ersten Irakkrieg, von nur mühsam verschleierten Gedanken über Personen der Frankfurter Lokalpolitik und vor allem von einem unsäglichen Feldzug gegen die "neuere Hirnforschung", spürbar der Lieblingsfeind des Erzählers, eine Abrechnung, die emotional nachvollziehbar sein mag, aber in einem Roman, zumal in dieser dilettantischen Argumentation, nichts zu suchen hat. Haberland kämpft gegen die "neuere Hirnforschung" wie gegen Windmühlen, er verteidigt sich, bitter, zynisch, als hätte ihn die "neuere Hirnforschung", die in wenigen Jahren obsolet und die "ältere Hirnforschung" sein wird, persönlich etwas angetan.

Ebenso überflüssig wie diese Debatte ist das ständige Verweisen auf das Erzählen selbst. Über Branzger versucht Kirchhoff eine Meta-Ebene zu etablieren, indem er ihn über das Erzählen reflektieren lässt. Das liest sich ganz nett, ist aber zu eindeutig die Stimme des Autors und nicht selten handelt dieser genau dem zuwider, was er zuvor gefordert hat. "Wer sich beim Erzählen zurücklehnen möchte, braucht gar nicht erst damit anzufangen. Alles Bequeme reicht nur zum Schildern der Dinge, und ich will von dir nicht hören, dass dieses Mädchen schön war oder [...] sinnlich oder [...] faszinierend, wie ich auch nichts von irgendwelcher Lust hören will. Das alles sollte nur entstehen, wenn du erzählst, ohne das man gleich merkt, wodurch es entstanden ist. Denk einfach an die Musik, Haberland: nicht die Noten interessieren, sondern der Klang."

Und eben jenen Klang des Lebendigen vermisst man allzu oft im Geschriebenen von Kirchhoff, eben weil alles nur erinnert wird. Branzger kann noch so lebhaft seine Affäre mit der Kressnitz, der Kunstlehrerin, schildern, das Verlegen des Geschehens in eine ferne Vergangenheit nimmt dem Erzählten jede Relevanz. Kirchhoff selbst macht es sich zu bequem, indem er unentwegt nur schildert.

Neben diesen Schwächen fehlt es ebenso an der Motivation der gesamten Geschichte. Branzger erzählt Haberland von der Lehrerkonferenz und will dafür, im Gegenzug, die Geschichte des Liebesaktes im Keller hören. Ein Pakt: "Meine Geschichte aus dem Besprechungsraum, Haberland, gegen deine Geschichte aus dem Keller." Das Problem nur: Branzger hat viel zu erzählen, Haberland nichts. Branzgers Voyeurismus wirkt übertrieben, und sein Exhibitionismus wiederum nicht nachvollziehbar.

An einer Stelle, Branzger referiert mal wieder über das Erzählen, heißt es: "Wer was erzählen will, muss einen Berg versetzen. Erst trägt man ihn nach und nach ab und lernt dabei alles kennen [...] dann richtet man ihn unter noch ungleich größerer Mühe anstelle der Wirklichkeit wieder auf." Ein schönes Bild, zweifelsohne, eine Metapher für das Erschaffen dessen, was man gerade in Händen hält. Auch Kirchhoff schichtet mit seinem Roman einen fiktiven Berg auf, nur stellt er ihn auf den Kopf. Die gesamte Geschichte ruht einzig auf diesem Satz, "meine Geschichte gegen deine Geschichte" - und das ist zu wenig für diese Anstrengung, ebenso wie diese kleine Gymnasiastenverliebtheit schlicht und einfach zu wenig ist für einen ganzen Roman.

Wie der Zufall - oder eben jenes leicht zu durchschauende Konstrukt des Autors - es will, bewirbt sich eben jene Tizia, nun Schauspielerin geworden, zwölf Jahre später auf einen Job am Goethe-Institut in Lissabon, an dem Haberland beschäftigt ist. Haberland sieht dieser Begegnung gespannt entgegen, ebenso wie der Leser, doch in dem Moment, in dem Tizia um die Ecke biegt und in dem Lokal, in dem Haberland auf sie wartet, auftaucht, endet die Geschichte. Wo es also interessant, lebendig, gegenwärtig zu werden verspricht, bricht Kirchhoff ab, als könne er über die Liebe, die verklärte, nur in der Vergangenheitsform berichten.

Einzig seine Sprache kann man Kirchhoff zugute halten, dieses Fluidum an gewundenen Sätzen, diese plötzlich aufblitzende Bildhaftigkeit und Genauigkeit, dieser Sog, der einen selbst in das Uninteressante hineinzieht. Schade nur, dass diese Sprache nichts zu erzählen hat.

Titelbild

Bodo Kirchhoff: Wo das Meer beginnt. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2004.
307 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 362700115X

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