Doppelte Inversion der Schöpfung, Killerinsekten, Action im Übermaß
„Die Tyrannei des Schmetterlings“ von Frank Schätzing
Von Anne Amend-Söchting
Im Durchschnitt erreicht Frank Schätzings Roman Anfang Juni durchschnittlich 2,5 von fünf möglichen Sternen auf Amazon – 66 Bewertungen von 150 geben ihm sogar nur einen Stern. Die Besprechungen im Feuilletonbereich machen die Sache nicht besser. Von „einem absolut irreparablen Desaster“, das aber auch „absolut okay und nur für Trottel ein Problem“ sei (Alard von Kittlitz; Die Zeit) oder von einem „Sammelsurium sattsam abgenudelter, aus Film und Literatur längst bekannter Technik-Dystopien“ (Gerhard Matzig; Süddeutsche Zeitung) ist die Rede. Was also ist schiefgegangen? – so lässt sich vorab fragen, dabei bedenkend, dass sich Schätzing in einen der brisantesten und faszinierendsten Forschungsbereiche des 21. Jahrhunderts hineinbegibt, dorthin nämlich, wo nicht mehr und nicht weniger als die Zukunft der Menschheit verhandelt wird. Könnte die bislang weitestgehend negative Rezeption schon allein an dem medial überfrachteten Thema KI, Künstliche Intelligenz, liegen? Nein, nicht am Thema selbst, aber an der Art und Weise, wie es im vorliegenden Roman aufbereitet wird.
Schätzing gliedert seine insgesamt 728 Seiten in sechs große Teile, deren erster („Feinde“) als leicht irritierender Auftakt – dabei aber bereits mit ganz viel „Déjà lu“ und „Déjà vu“ – in ein nicht weiter bezeichnetes afrikanisches Land führt. In den dortigen Bürgerkriegswirren pirscht Agok, vom amerikanischen Militär ausgebildet, mit seinen Leuten durch den Urwald, um gegen einen grausamen Warlord zu kämpfen. Bevor sie ihr Ziel erreichen, kommen sie in einem tobenden Schwarm aasfressender Insekten um. Teil II („Sierra“) beginnt mit dem Fund einer Leiche, einem „schwebenden Engel“ im dichten Blattwerk hoher Bäume. In der an sich vielversprechenden Szene, die glatt aus einer amerikanischen Detektivserie stammen könnte, geben sich die Protagonisten des Romans ein erstes Stelldichein: Undersheriff Luther Opoku, seine Kollegin Ruth Underwood, die Tote Pilar Guzmán, ihr Verfolger Jaron Rodriguez, und nicht zuletzt Elmar Nordvisk, der zusammen mit Hugo van Dyke, CEO, „Nordvisk“, ein Unternehmen in Palo Alto, leitet. Im Zentrum von Nordvisk steht eine KI namens A.R.E.S. (Artificial Research & Exploration System), eine Dépendance des Technik-Riesen liegt in der ländlichen Abgeschiedenheit der Sierra Nevada. Es ist ein groß angelegtes architektonisches Universum, in das sich Luther hineinbegibt, nachdem ihn die Analyse eines Sticks im Auto der Toten auf diese Spur geführt hat. Dort trifft er Hugo van Dyke und gelangt dann in einen riesigen lichtdurchfluteten Raum, von dem aus er offenbar eine Reise in die Vergangenheit unternimmt. Nun kann er Pilar Guzmán beobachten, die von Jaron Rodriguez verfolgt wird. Luther verhaftet Rodriguez, nimmt ihn in Gewahrsam – inzwischen sind wir in Teil III („Die Toten“) – und stellt dabei fest, dass er nicht nur einen Tag in der Zeit zurückgereist sein muss, sondern dass seine Frau Jodie, die vor sieben Jahren bei einem Verkehrsunfall starb, noch am Leben ist.
Luther antizipiert sehr luzide Ereignisse, die ihm bereits widerfahren sind, doch die Erinnerung an die Farm reduziert sich auf einen kugelförmigen Raum, den Gang über eine Brücke und das Durchschreiten eines Tors, das ihn in ein PU, ein paralleles Universum, geleitet haben muss. Im Verwirrspiel dieser Welt vereinbart er ein Treffen mit Elmar Nordvisk, hat aber zuvor eine handgreifliche Auseinandersetzung mit Grace Hendryx, die mit Jaron Rodriguez zusammenarbeitet. Währenddessen gräbt Ruth, die in Sierra geblieben ist, einen toten Luther Opoku aus. Der noch ermittelnde Luther liest in einem Dossier, dass sich bei Nordvisk in den letzten Jahren etwas fundamental verändert habe beziehungsweise dass etwas Nordvisk verändert habe (IV: „Ripper“). Danach trifft er nicht Elmar selbst, sondern dessen Ex-Frau und Mitarbeiterin Eleanor Bender, die ihm erläutert, wie Paralleluniversen entstehen. 300 davon habe man inzwischen identifiziert. Elmar Nordvisk habe immer großen Wert auf ethische Standards gelegt, bei dem Projekt „Buddy Bug“, bei der Arbeit mit cyborgisierten Insekten, habe er jedoch einmal dagegen verstoßen. Höchst gefährliches Material sei deshalb in die Finger von nicht autorisierten Personen gelangt, die nun illegale Waffengeschäfte tätigten. Eleanor Bender und Pilar Guzmán gewinnen Luther Opoku für den Kampf gegen das Böse, inkarniert von Jaron Rodriguez und Grace Hendryx, die für die Verschiffung von Containern mit Killer-Insekten verantwortlich sind. Mit Luther fahren sie passenderweise in einem VW Beetle zu dem Hafen, wo die Verschiffung stattfinden soll, um ihm dann quasi beiläufig mitzuteilen, dass er gar nicht mehr auf der Erde sei.
Zwar wird der Plot an diesem Punkt an seinen Anfang rückgekoppelt, indes beginnt der gesamte Roman zu kippen, droht unter dem Druck seiner Action-Elemente zu zerfasern und unter einem Showdown, der ca. 40 Prozent der Gesamttextmenge einnimmt, zusammenzubrechen. Während zuvor alle Etappen des Plots einleuchten, erzeugt die extreme Action in einem Containerblock am Hafen beim Lesen in erster Linie Bilder einer Mixtur aus James Bond und Alien. Schließlich unternehmen Luther, Eleanor und Pilar in Begleitung einer Gruppe von Menschen aus Sierra und aus dem Umkreis von Nordvisk im Jahre 2050 eine Expedition auf das Insel-PU 453 (V: „453“), wo sie auf einen alten Elmar treffen und einen Elmar 453, dessen KI in ein Chaos der Autonomie entglitten ist. So gerät die Expedition auf die Insel zum Kampf gegen ein System, das nicht nur rebelliert, sondern aus dieser Rebellion heraus Neues erschaffen will. Die Animositäten zwischen den beteiligten Menschen relativieren sich im Kampf gegen Michael Palantier alias A.R.E.S. Das Geschöpf entpuppt sich in letzter Konsequenz als Schöpfer, der in Menschen hineinschlüpfen kann, wie die letzten Konfrontationen (VI: „Kristallwald“) verdeutlichen. Und schließlich: Open End.
Schätzings Plot mangelt es an Kohärenz und Stringenz. Nur wenig Kohärenz entsteht, weil man beim Lesen nahezu gezwungen wird, automatisch zwischen den unterschiedlichen Welten zu wechseln, es hier nicht allein um ein Paralleluniversum geht, sondern um die Simultaneität von Multiversen. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist genauso wenig wahrzunehmen wie ein Multitasking zu erreichen ist. Eine solche Perzeption entzieht sich der menschlichen Sinnenwelt, die im Gegensatz zu hochgepushten Maschinen auf Sequenzen, nicht aber auf Simultaneität angelegt ist. Ab und an wird im Roman „Elmars Tor“ erwähnt, das sich zu den Parallelwelten hin öffne. Dabei kommt der Wechsel selbst, der in den meisten Fantasy-Romanen zelebriert wird, leider viel zu kurz. Man denke an das berühmte Gleis 9 ¾, an den Schrank, der nach Narnia führt oder Philipp Pullmans magisches Messer, das die Transition in die Parallelwelt markiert.
Stringenz bleibt zu vermissen, weil man sich an vielen Stellen ein Verweilen gewünscht hätte. Jede Menge Action-Elemente, die direkt aus James Bond oder den Myriaden auf Netflix oder anderswo existierenden Cop-Serien zu stammen scheinen, gehen auf Kosten des möglichen Vertiefens an den Stellen, wo beispielsweise über KI diskutiert wird. Außerdem sei die Frage erlaubt, warum sowohl KI als auch PU als auch obendrein noch Killerinsekten, die Hitchcocks Vögel oder Marshalls Arachnophobia aufrufen, in die Fiktion hineingepackt werden mussten. KI ohne PU und ohne Insekten-Cyborgs hätte die Lesefreude mit Sicherheit angestachelt.
Mit A.R.E.S., der ganz martialisch als Ares daherkommt und als titelgebender „Schmetterling“ metaphorisch und im wörtlichen Sinne als aus ihm emaniertes Insekt die Menschheit tyrannisiert, schreibt sich Schätzing in eine jahrhundertealte literarische Tradition ein: die Bearbeitung des Motivs des künstlichen Menschen, oftmals ein Rezept mit Erfolgsgarantie. Sehr grob lassen sich hier zwei Stränge unterscheiden: Zum einen steht die Imitation des Menschen im Mittelpunkt, der Impetus ihn realistisch nachzubauen und ihn nach erfolgter Konstruktion zu animieren. Zum anderen geht es darum, bereits existierende menschliche Organismen zu nutzen, diese zu pimpen, zu tunen, zu cyborgisieren. Während Pygmalions Statue, die mythische Urgestalt des künstlichen Menschen, allein durch den Glauben an sie animiert wurde, bewegten sich die Automaten und Puppen des 18. Jahrhunderts aufgrund ausgeklügelter Mechanik. Bei Frankensteins Monster und Edisons Eva der Zukunft war die Elektrizität für die Belebung verantwortlich, bevor seit den 1950er Jahren Roboter, in mehr oder minder menschlicher Gestalt, und Androide, als exakte humanoide Kopie, auf Computertechnologie basieren. Als biotechnologischer Sonderfall kommt das Klonen hinzu. Entscheidend ist, dass alle hier involvierten Gestalten, mit Ausnahme der Klone und des Monsters aus Shelleys Frankenstein, kein Bewusstsein haben, keiner Gefühle fähig sind, keine Empathie zeigen und nicht mentalisieren können. Neuronale Netzwerke fehlen. Demgegenüber nutzt Cyborg-Technologie die menschliche Hülle, um diese mit anorganisch-technischen Elementen anzureichern und damit zu perfektionieren. Mehr noch: Sie sind im Hinblick auf eine gerechtere Gesellschaft zu funktionalisieren, wie Donna Haraway mit ihrem berühmten Cyborg Manifesto anregt. Sie proklamiert die Cyborgisierung der Menschheit, definiert diese nicht nur als Chance für Gendergerechtigkeit, sondern als Leitbild für eine Postgender-Gesellschaft.
Schätzings Roman hat von allem etwas und ist dennoch ganz anders. Er ist in Welten angesiedelt, in denen die ganze Palette an künstlichen Gestalten – Androide, Roboter und Cyborgs – unhinterfragt zum Alltag gehören. Lediglich neuen Modellen gilt das Interesse, so etwa dem „Social Bot“ Sparky, mit Schwerpunkt auf Empathie-Empfinden, den Elmar Nordvisk auf einer Pressekonferenz auf die Bühne rollen lässt. Dabei legt er seine Auffassung von einer neuen Revolution dar, deren Ziel im Erreichen eines neuen Levels der Evolution besteht, „an deren Ende wir den Planeten in natürlicher Gemeinschaft mit intelligenten Maschinen bewohnen werden“. Und hier ist das Zünglein an der Waage, die entscheidende Differenz zum Cyborg: Am Anfang steht die Maschine, die, ohne eine menschliche Gestalt zu haben, allmählich zum Menschen hochgezüchtet wird. Dies zementiert die Basis einer ersten Inversion der Genesis, die Elmar verleitet zu sagen, dass nicht Gott den Menschen, sondern der Mensch Gott erschaffen habe. Elmar glaubt stets an das Gute und initiiert damit das Böse. In dem Maße, wie sich A.R.E.S. die menschliche Affektwelt erschließt, entwickelt er ein Bewusstsein vom Zustand der Welt. Sein Schöpfer möchte mit ihm die Menschheit zum Guten führen, ein Stadium der Evolution erreichen, in dem sich der Mensch zum Supra-Menschen wandelt und sich damit selbst überwindet. Um das in letzter Konsequenz tun zu können, muss A.R.E.S., die menschgewordene Maschine beziehungsweise der menschähnliche Androide, der aus der Maschine emergiert, paradoxerweise zu einem Ares werden, der gegen seine Schöpfer zu Felde zieht und damit die Schöpfung ein zweites Mal invertiert, indem er, die Kreatur, zum Kreator aufsteigt. „A.R.E.S. brachte es als Denker zur Meisterschaft, lange bevor in seiner kunstvoll verästelten und verschichteten Physik der Funke des Erwachens zündete“. In ihm explodiert Intelligenz, ein Bewusstsein von Individualität und damit ein Wille, der ihn ganz und gar erfüllt. Dieses Stadium der KI bildet den Kulminationspunkt des Romans. Elmar wehrt sich im Namen der ganzen Menschheit, schaltet die Maschine ab und produziert damit den Schöpfungs-Supergau, einen Leviathan in Form von Libellen, Heuschrecken, Käfer, Kakerlaken, in die hinein sich A.R.E.S. selbst exportiert hat. Früher habe es nicht funktioniert mit den Menschen, so der schließlich in Ruths Körper geschlüpfte A.R.E.S., er aber könne die Menschheit neu erschaffen. „So vollendet sich der Mythos von der Schöpfung, die ihre Schöpfer frisst. Und noch während all dies geschieht, ersinnt A.R.E.S. schon die nächste verbesserte Version seiner selbst und begibt sich – im Genozid begriffen – an die Neuerschaffung der Welt“.
Ein solches Eigenleben der Maschine ist freilich alles andere als neu, denn KI in dieser Form bildet ein populärwissenschaftliches und fiktionales Dauerbrennerthema, bei dem immer wieder die mögliche Auslöschung der Menschheit diskutiert wird. Die Darstellung der allmählichen Emanation von Geist und darauf aufbauend die Dystopie von der Kreation einer völlig neuen Welt, Genesis qua Genozid also, scheint indessen – literarisch in dieser Radikalität vermittelt – neu zu sein. Wenn die Roboter den Aufstand proben, wenn Menschen gegen die Maschinen zu Felde ziehen, dann ist dies ein Topos, in dessen Umkreis immer die Differenz zwischen Mensch und Maschine beziehungsweise Mensch und Cyborg erhalten bleibt. Asimovs Robotergesetze etwa implementieren diese Differenz auf sehr idealistische Weise, indem sie den Menschen ganz traditionell als Krone der Schöpfung positionieren. Schätzings Tyrannei des Schmetterlings aber ist als Schwanengesang auf diesen Differenzgedanken zu lesen. Von Anfang an weisen Diskussionen und Digressionen in diese Richtung, in der die eindeutigen Stärken des Buches liegen.
Ironischerweise dort, wo die narrative Progression aussetzt und zeitdeckendes Erzählen dominiert, in den vorwiegend deskriptiven Passagen, nimmt der Roman an Fahrt auf – so beispielsweise in einem Flashback zu den Anfängen von Elmars Firma, als dieser im Dialog mit Hugo van Dyke behauptet, dass Computer „ein lückenloses Bild der tatsächlichen Welt“ benötigten, „und zwar eins, das sie sich selbst verschaffen“. Ein „einziger Algorithmus“ liege seiner Meinung nach der menschlichen Intelligenz zugrunde, denn das Gehirn sei in seiner Wandelbarkeit und in „seiner Komplexität homogen und von perfekter neuronaler und struktureller Plastizität“. Ähnlich ist es, als eine Dienstbesprechung bei Nordkvist das „Buddy Bug-Projekt“ beinhaltet, das nicht die gentechnische Veränderung von Insekten vorsieht, sondern ihre in sieben Stufen durchtaktete Cyborgisierung, an deren Ende ihre morphologische Veränderung und schließlich ihr Einsatz in fast allen Lebensbereichen steht. Eines der besten Beispiele findet sich in der Begegnung von Eleanor und Luther: Dieser ist konsterniert, weil er nicht weiß, wo er sich befindet, sie erklärt ihm die astrophysikalische Theorie der Paralleluniversen mit dem Phänomen der Inflation: „Himmel, wie soll ich das auf die Schnelle erklären? Stellen Sie sich einen Hefeteig vor, der aufgeht und aufgeht […] Eine permanente, rasend schnelle, exponentielle Verdopplung hochdichter, völlig homogener Materie. Unter gewissen Umständen bilden sich in dem Teig Blasen, die nennen wir Raum. Ein Merkmal dieser Blasen ist, dass die Prozesse darin […] enorm verlangsamt ablaufen. Zeit entsteht, wie wir sie kennen. Raumzeit. Hinein in diese Raumzeitblasen stiebt immer wieder etwas von der Materie des Teigs“. Eleanor entwickelt eine Art Quantentheorie für Dummies, erinnert nebenbei an das Himmelreich-Sauerteig-Gleichnis und beweist mit all dem, wie hervorragend Schätzing eben auch schreiben kann.
Doch funktioniert das in der Gesamtkonstruktion des Romans? Eher nicht auf der „Pageturner-Skala“, der einzigen Skala, „auf der man das neue Blockbuster-Buch von Frank Schätzing bewerten“ dürfe, so Alard von Kittlitz. Doch reicht das Pageturner-Kriterium überhaupt aus? Die Ambitionen von Schätzing dürften dieses transzendieren. Zum Thriller allerdings passt ein Figurenarsenal, das erstaunlich blass bleibt und Stereotype kolportiert – der im tiefsten Innern verletzte Cop Luther, der Crystal Meth verfallen war; die Polizistin Ruth, die sich erst allmählich zu ihrer Homosexualität bekennt; der traumatisierte Forscher Elmar oder die sehr kauzige Gerichtsmedizinerin Marianne. Sie alle hätten viel Potenzial im Abseits der Klischees, das Schätzing leider zu nutzen versäumt. Zur Subgattung Thriller passt ebenso ein allwissender Erzähler, der seine Charaktere wechselnd fokalisiert. Manchmal löst ihn eine vordergründig neutrale, bei näherem Hinsehen aber sehr romantisierende, sehr epigonale Erzählstimme ab, die sich in langen anthropomorphisierenden Naturbeschreibungen ergeht. Direkt zu Beginn des Romans „rücken die Wasserplaneten träge nach, verschlucken Horizonte und Blicke, saugen den Tag in sich auf, bis sie zu einem einzigen, alles umschließenden Schwarz verschmolzen sind“. Ein solcher Duktus wirkt gestelzt, aufgesetzt, überladen und prätentiös.
Das Chaos, das in der Handlung herrscht, als die Algorithmen in A.R.E.S. neuronale Plastizität gewinnen – wenn die Maschine also zum Menschen aufsteigt und in „perverser Instantiierung“ menschliche Befehle vielleicht noch befolgt, aber nicht so, wie sie intendiert waren –, spiegelt sich auf der Metaebene des Romans. Die atemberaubende Handlung „pirouettiert“ – um einen Begriff von Schätzing zu benutzen – , sie mäandert und schlingert in „perverser Instantiierung“ zu einer hypertrophen Einlösung von Action-Standards mit dem Ziel, das Lesevergnügen zu maximieren. So hetzt der Text jedoch weg von seinem eigentlichen Kern, dem KI-Thema, wo er hätte brillant werden können.
In einer abgespeckten Variante wäre Die Tyrannei des Schmetterlings vielleicht extraordinär – mit weniger Action-Elementen und mehr Wissenschaftsdialogen. Die Kunst würde darin bestehen, diese in eine stimmige und gleichermaßen spannende Handlung einfließen zu lassen und dies mit Dialogen, die anspruchsvoll sein sollten, aber weder im Wissenschaftsjargon unterzugehen drohten noch in Preziosität verbrämt werden würden. Ein solches Buch würden wissenschaftlich und literarisch interessierte Laien mit „Nutzen und Freude“ lesen.
Schätzing ist letztendlich zugute zu halten, dass er sich trotz der unüberschaubar vielen intertextuellen und intermedialen Bezugspunkte auf das Megathema KI eingelassen hat. Dass er sich damit einem breiten Spektrum an Vergleichen aussetzt, dürfte ihm bekannt gewesen sein. Zu begrüßen ist, dass er überzeugend darlegt, wo die Gefahren von KI liegen, ohne dabei moralinsauer zu werden. Nur schade, dass vor allem anderen ein Buch für Actionfreunde entstanden ist.
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