Lesen in der Corona-Krise – Teil 12
Der Ökonom Daniel Stelter skizziert in „Coronomics“ seinen Wiederaufbauplan für die Zeit nach Corona
Von Jonas Heß
Als kurz nach Beginn der Pandemie in Europa der Lockdown des öffentlichen Lebens kam, war klar, dass diese aus gesundheitlicher Sicht notwendige Maßnahme gewaltige wirtschaftliche Auswirkungen haben würde. Ein ganzes Land, ein ganzer Kontinent stand Wochen lang still. Selbst jetzt – Monate nach dem Einsetzen der Maßnahmen – sind wir, trotz zahlreicher Lockerungen, noch weit von der Normalität vor Corona entfernt, auch wenn die Aktienmärkte hier einen anderen Eindruck vermitteln mögen.
Der Ökonom Daniel Stelter nahm diese außergewöhnliche Situation zum Anlass, nicht nur auf den Stand der deutschen Wirtschaft vor der Krise zu schauen, sondern davon ausgehend auch einen Plan für die Öffnung nach Corona und eine damit verbundene andere Weise des Wirtschaftens in Deutschland vorzuschlagen. Nicht alles daran ist brandneu. Viele der Auffassungen, insbesondere zum Stand der deutschen und europäischen Wirtschaft, hat Stelter in den vergangenen Jahren bereits in zahlreichen Wirtschaftsmedien, seinem Blog und – seit Kurzem – seinem Podcast zum Ausdruck gebracht. Es gelingt ihm aber, diese in einen schlüssigen und sinnvollen Zusammenhang mit der aktuellen Lage zu bringen – auch wenn manche Idee auf den ersten Blick radikal erscheinen mag.
Den Ausgangspunkt von Stelters Überlegungen bildet die Auffassung, dass die Euro- und Finanzkrise – trotz Rekordkursen an den Aktienmärkten und „schwarzer Null“ – in Deutschland und ganz Europa nicht wirklich überwunden wurde. Die andauernde Niedrigzinspolitik der EZB, die über billiges Geld der Ankurbelung der Wirtschaft nach den Krisen dienen sollte, habe ihr eigentliches Ziel verfehlt. Denn das Geld sei nicht produktiv für neue Anlagen und Innovationen genutzt worden, sondern zum Kauf von Aktien und Immobilien, was zu hohen Kursen an den Börsen geführt habe, während notwendige Investitionen ausgeblieben seien.
Dass mehr und mehr Unternehmen nur noch mithilfe des billigen Geldes der Zentralbank überleben konnten, habe zudem zu einer „Zombifizierung“ großer Teile der Wirtschaft geführt. Diese Tatsache wiederum habe es der EZB quasi unmöglich gemacht, die Zinsen wieder anzuheben, um für einen nächsten Schock gewappnet zu sein, da dann ein großer Teil der Wirtschaft in die Zahlungsunfähigkeit gerutscht und eine weitere Krise provoziert worden wäre. Die bereits vorhandene Verminderung der Produktivität sei zudem durch ausbleibende staatliche Investitionen beispielsweise in Digitalisierung, Bildung und Infrastruktur, welche für Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand in der Zukunft zentral seien, verstärkt worden.
Dies habe zu einer „Illusion von Wohlstand“ geführt, die letztlich ohnehin nicht auf Dauer hätte bestehen können und früher oder später den nächsten Crash begünstigt hätte. Dankenswerterweise unterstreicht der Ökonom in diesem Zuge, dass die Verantwortung hierfür nicht allein „den Politikern“ zukomme, sondern dass diese in seinen Augen fatale Politik sehr wohl auch von breiten Teilen der Bevölkerung gewünscht und gutgeheißen wurde – ein Umstand, den er mit dem oft fehlenden oder überschätzten ökonomischen und politischen Grundwissen der Bevölkerung erklärt.
In diese angespannte Situation nun sei die Corona-Krise eingeschlagen. Stelter skizziert, wie insbesondere kleinere Unternehmen, die nicht selten mit geringen Gewinnmargen und wenigen Rücklagen arbeiten, hart von den Umsatzeinbußen getroffen werden. Vielen – er nennt als Beispiel die Gastronomie – sei zudem nicht mit (selbst zinsfreien) Krediten zu helfen, da eine Tilgung schon bei normal laufendem Geschäft oft schwer möglich sei. Stelter ist deshalb der Auffassung, dass ein „künstliches Koma“ der Wirtschaft für die Zeit der Krise die Lösung gewesen wäre, also eine gesamtwirtschaftliche Pause, in der auch Forderungen ausgesetzt würden. Kritisch sieht er die vermehrten staatlichen Beteiligungen und die Vergabe von Krediten statt Zuschüssen.
Wie nun also raus aus der Krise und wie umgehen mit den Altlasten? Im Juli 2020 hat sich die EU auf ein gewaltiges Hilfsprogramm in Höhe von 750 Milliarden Euro geeinigt. Es besteht nicht nur aus Krediten mit einem Volumen von 360 Milliarden Euro, sondern auch aus der gemeinsamen Schuldenaufnahme („Coronabonds“) im Umfang von 390 Milliarden Euro. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte nehmen die EU-Länder also gemeinsam Schulden auf. Das bedeutet letztlich auch, dass die wirtschaftlich stärkeren Länder für die schwächeren bürgen und ggf. deren Schulden mittragen. Dies wurde zu großen Teilen als ein Zeichen europäischer Solidarität in schweren Zeiten gewertet, von Stelter aber – dessen Buch bereits vor dieser Einigung erschien – als evtl. wiederkehrende Vergemeinschaftung von Schulden negativ bewertet.
Stelters Alternativvorschlag geht da nun noch wesentlich weiter. Er begreift die Corona-Krise als Chance, bei ihrer Bewältigung auch die schon zuvor existenten, oben skizzierten Probleme auf radikale Weise zu lösen. Sein Vorschlag läuft letztlich auf einen Reset der europäischen Wirtschaft durch Staaten und Notenbank hinaus. Dies ist für ihn nicht nur eine Option, sondern – angesichts der bereits bestehenden hohen Verschuldung der Staaten bei immer geringerer Produktivität und den nun hinzutretenden historischen Belastungen für die nächsten Jahre – ein Szenario, dass über kurz oder lang ohnehin eintreten werde, also ‚alternativlos‘ sei. Daher plädiert er dafür, sich frühzeitig offen dafür auszusprechen und auf diese Weise aktiv an der genauen Gestaltung partizipieren zu können.
Im Zentrum des Vorschlags steht die Monetarisierung der Schulden der europäischen Staaten über die Notenbank. Dabei sollen die Staaten eben nicht – wie es mittlerweile zum Teil beschlossen ist – ihre Schulden vergemeinschaften und also füreinander bürgen, sondern Schulden in Höhe von je drei Vierteln des jeweiligen BIP auf einen neu gegründeten Schuldentilgungsfonds übertragen. Von diesem werden sie dann durch die EZB aufgekauft. Nach Stelters Rechnung würde die EZB über diesen Weg weitere 6,2 Billionen (!) Euro für Staatsanleihen zur Verfügung stellen. Die Rückzahlung würde zunächst über 100 Jahre gestreckt und zinsfrei gestellt, letztlich evtl. auch darauf verzichtet.
Unter dem Strich würden also die Schulden der Staaten auf die EZB übertragen und über die Bilanz der Zentralbank entsorgt. Ein Großteil der Schulden würde also schlichtweg annulliert und es wäre wieder genügend finanzieller Spielraum für Investitionen zur Verfügung. Letztlich käme das einer (indirekten) Staatsfinanzierung durch die Notenbank, wie sie Vertreter der Modern Monetary Theory fordern, sehr nahe. Auch wenn Stelter kein Anhänger dieser Theorie ist, plädiert er für den einmaligen Einsatz dieser Maßnahme, da wir es seiner Ansicht nach mit einem derart gravierenden wirtschaftlichen Schaden zu tun haben, dass diesem weder durch (in diesem Umfang nirgends existierende) finanzielle Reserven noch über beliebig drastische Sparkurse in der Zukunft begegnet werden könne.
Während der Autor bei seinem Vorschlag u.a. den Vorteil sieht, dass ein solches Vorgehen einen einmaligen und im Vorhinein festgesetzten Betrag in Anschlag bringt, könnte man kritisch einwenden, nicht nur dass es fraglich ist, ob es, hat man eine solche Maßnahme erst einmal verwendet, wirklich bei der Einmaligkeit bleibt. Auch die immense Menge des auf diese Weise in den Markt gepumpten Geldes dürfte Veranlassung zur Sorge vor einer massiv steigenden Inflation sein. Diesem Einwand entgegnet Stelter, dass eine solche Folge nicht befürchtet werden müsse, solange es sich um eine einmalige Aktion handle, die zudem vor dem Hintergrund eines einmaligen deflationären Schocks stattfinde. Nichtsdestoweniger geht auch er perspektivisch von einer moderat steigenden Inflationsrate aus.
Die von Stelter vorgeschlagene Monetarisierung der Schulden soll zudem kombiniert werden mit einem – und hier zielt er nun auf die seiner Ansicht nach in den letzten zehn Jahren schwelenden Probleme – massiven staatlichen und gesamtwirtschaftlichen Investitionsprogramm. Dieses müsse nicht nur auf gesteigerte Effizienz in den Bereichen Energiewende, Digitalisierung und Bildung setzen, sondern auch die Steigerung der Beschäftigungsquote zum Ziel haben, etwa durch steuerliche Entlastungen für Arbeitnehmer, Flexibilisierung der Arbeit und bessere Betreuungsangebote für Kinder. Darüber hinaus plädiert Stelter schließlich für die Bildung eines Staatsfonds, der es den deutschen Sparern erlauben würde, ihr Geld gewinnbringender und sinnvoller anzulegen als bisher.
Ein ökonomischer Rundumschlag also, was Stelter hier vor dem Hintergrund der Corona-Krise – aber eben nicht nur in Bezug zu dieser – vorschlägt. Die sehr detail- und exkursreichen, stets datenbasierten Ausführungen geben dabei aber auch häufig Anlass zur Vertiefung in die ein oder andere benachbarte Fragestellung, sodass die Lektüre von Coronomics en passant auch einen Überblick über allgemeine ökonomische Zusammenhänge bietet. Abschließend ließe sich nun natürlich noch fragen, ob vor dem Hintergrund des bereits von der EU Beschlossenen überhaupt noch eine Chance auf eine Umsetzung des so radikalen wie nachvollziehbaren Vorschlags des Ökonomen besteht. Stelter selbst hält das Szenario wie beschrieben ohnehin für unvermeidlich. Die nächsten Monate und Jahre werden zeigen, ob er damit Recht behält.
Hinweis: Alle bisher erschienenen Teile unserer Reihe „Lesen in der Corona-Krise“ finden Sie hier.
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