Auf den Spuren Amundsens
Florian Wackers Roman „Weiße Finsternis“ unternimmt eine packende Expedition in die Arktis vor 100 Jahren
Von Marieluise Labry
Im September 2020 kehrte das Expeditionsschiff Polarstern aus der Arktis wieder. Die Polarstern ließ sich ein Jahr lang im Packeis einfrieren und durch die Arktis treiben, um Daten für die Klima- und Umweltforschung zu erheben. 600 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus 17 verschiedenen Nationen waren an diesem Projekt beteiligt. Start- und Endpunkt der einjährigen Expedition war die nordnorwegische Stadt Tromsø, von der schon 100 Jahre zuvor Roald Amundsen zu seinen Polarexpeditionen aufbrach.
Auch in Florian Wackers Roman Weiße Finsternis starten die beiden jungen Seemänner Peter Tessem und Paul Knutsen, angeheuert von Amundsen persönlich, auf dem Schiff Maud von Tromsø aus in die Arktis. Roald Amundsen, der bekannteste norwegische Polarforscher seiner Zeit, hatte im Jahr 1918 schon einige Expeditionen hinter sich, unter anderem erreichte er als erster den Südpol. Für seine Expedition auf der Maud will er sich (ähnlich wie 100 Jahre später die Polarstern) durch das Eis der Arktis zum Nordpol treiben lassen. Es kommt immer wieder zu Problemen, sodass die Expedition viel länger als geplant dauert und die Maud zwei Jahre an der Küste Sibiriens überwintern muss. 1920, zwei Jahre nach Aufbruch, erreicht die Maud Alaska und hat damit, statt den Nordpol zu erreichen, die Nordostpassage durchquert.
Die Moral und die Gesundheit der Besatzung der Maud werden mit der Zeit immer schlechter. Auch die Gesundheit von Peter Tessem ist stark angegriffen, sodass Amundsen beschließt, ihn mit seinem Freund Paul Kuntsen per Hundeschlitten übers Eis im tiefsten Winter zum nächsten Außenposten in Sibirien zu schicken. Diese fast 800 Kilometer weite, aufreibende und gefährliche Wanderung wird im Roman Weiße Finsternis erzählt.
Der Roman verwebt dabei fünf verschiedene Erzählstränge, die anfangs durch diverse Zeitsprünge etwas verwirrend sind, aber eine enorme Spannung aufbauen. Neben der Perspektive von Peter und Paul, die sich durch die winterliche dunkle Arktis schlagen, wird auch von der Suchexpedition anderthalb Jahre später berichtet. Im Sommer 1921 brechen einige Norweger und Sowjets mit dem Auftrag auf, herauszufinden, was mit Peter und Paul geschehen ist. Florian Wacker schafft es dabei, geschickt den jeweiligen Erzählstrang nur so weit zu erzählen, dass der Bericht aus Peter und Pauls Perspektive nie dem Bericht der Suchexpedition vorausgreift. Cliffhanger am Kapitelende lassen einen das Buch nur schwer zur Seite legen. Der dritte Erzählstrang sind Tagebucheinträge von Paul auf der Maud, die die beklemmende und hoffnungslose Stimmung auf dem Schiff wiedergibt.
Der vierte und fünfte Erzählstrang sind zum einen Ausschnitte aus Kindheit und Jugend von Peter und Paul in Tromsø und zum anderen die Perspektive von Peters Frau Liv, die mit ihren zwei Kindern zu Hause sitzt und es leid ist, auf ihren Mann zu warten und immer im Ungewissen zu sein, ob und wann er zurückkehrt. Peter, Paul und Liv kennen sich seit dem ersten Schultag und sie verbindet eine lange und intensive Freundschaft, die sich aber mit den Jahren zu einer komplizierten Dreiecksbeziehung entwickelt. Die Rückblenden und Livs Perspektive zeigen, wie vielschichtig und kompliziert die Freundschaft von Peter und Paul ist, die bei ihrer gefährlichen Expedition aufeinander angewiesen sind.
Das Liebesdrama und die unvermeidbare Dreiecksbeziehung (zwei Männer – eine Frau) wirken vielleicht etwas zu klassisch für einen Abenteuerroman. Man kann es auch als Kitsch sehen. Jedoch ist die Perspektive Livs, einer Frau ihrer Zeit, wichtig, da deutlich wird, dass die Geschichte der Polarexpeditionen eine reine Männer-Geschichte ist, die keinen Raum für die Perspektive der Frauen lässt. Liv gibt sich nicht zufrieden damit, nur Hausfrau und Mutter zu sein und träumt insgeheim von Expeditionen nach Südamerika. Ihr Erzählstrang ist also nicht purer Kitsch, denn er ist mehr als die Geschichte einer passiven Frau zwischen zwei Helden.
Florian Wacker, der schon vor Erscheinen des Romans im März 2021 mit dem Robert Gernhardt Preis ausgezeichnet wurde, schafft es in sehr gelungener und moderner Abenteuer-Roman-Manier, seine Leser und Leserinnen zu fesseln. Das Verschwinden und die Suche nach den Seemännern Peter Tessem und Paul Knutsen beruht auf wahren Begebenheiten. Florian Wacker literarisiert diesen Fall so geschickt, dass man bis zur letzten Seite mitfiebert. Die Charaktere von Peter und Paul sind durch die Rückblicke in die Kindheit und Jugend plastisch und nachvollziehbar.
Interessant ist, dass Florian Wacker sich schon in seinem Roman Stromland aus dem Jahr 2018 mit einer Suchexpedition, die auf wahren Begebenheiten beruht, beschäftigt hat. In seinem Roman Stromland geht es um die Suchexpedition nach dem verschwundenen Teil der Filmcrew von Werner Herzogs Film Fitzcarraldo im Amazonas. Häufig versuchen Romane und auch Filme, die sich auf wahre Begebenheiten beziehen, die erzählte Geschichte zu legitimieren. Und nicht zu selten ist die Geschichte an sich zwar aufregend und erstaunlich, aber die Umsetzung davon eher enttäuschend und das Einzige, was übrigbleibt, sind die wahren Begebenheiten.
Diesen Vorwurf kann man Florian Wacker nicht machen, da sein Roman auch ohne den Bezug zur Geschichte funktioniert und man sich trotzdem gerne mehr mit Polarexpeditionen vor hundert Jahren und heute beschäftigen möchte. Die Faszination für die Arktis wird fassbar und die vielen Strapazen, die Forscher und Forscherinnen heute und früher für solche Expeditionen auf sich nehmen müssen, werden verständlich. Denn wie der Titel schon verrät, kann man wohl eine Weiße Finsternis nur im ewigen Eis erleben.
Ewiges Eis? Schaut man sich die Erkenntnisse der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen der Polarstern genauer an, zerplatzt die Arktis-Romantik. Das ewige Eis ist schon länger nicht mehr so ewig, sondern schmilzt, und zwar immer schneller – und das mit fatalen Folgen, nicht nur für die Arktis.
![]() | ||
|
||
![]() |