CFP: Soziale Medien / social media / réseaux sociaux (Variations 27, 2020) (9.2.2020)

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Vor über einem Jahrzehnt haben die sozialen Medien eine Zeitenwende in der Nutzung des Internets herbeigeführt. Seither macht die rege Frequentierung von Plattformen wie Facebook, Instagram, Youtube oder Twitter deutlich, dass „once again, the entire set of ways people make themselves visible to the world, and make the world visible to them, has undergone a substantial reorientation with respect to new devices that capture and share“ (Jurgenson 2019: 2). Speziell an die visuelle Dimension der digitalen Kommunikation knüpfen sich durch die „Typisierung, Überzeichnung und Pointierung“ von Ausdrucksformen bisweilen sogar Hoffnungen, einen global verständlichen Affektcode zu kreieren, der herkömmliche Sprachbarrieren zu überwinden vermöchte (Ullrich 2019: 11). Das Themenheft „Soziale Medien / social media / réseaux sociaux“ des komparatistischen Journals variations soll neben der fotografischen und filmischen nun insbesondere auch die textuellen Erzählformen des Web 2.0 in den Fokus rücken. 

            Soziale Medien sind mittlerweile zu einem kulturellen Faktor aufgestiegen, der einen erheblichen Einfluss auf die Inhalte, Herstellung und Rezeption von Literatur hat. Nicht nur die Leseforschung betont, dass die „affinity spaces“ mit ihren „multiple interest-driven trajectories“ Rezeptionsvorgänge steuern und Textformen privilegieren, die den Genrekonventionen der „digital narratives“ entsprechen (Vlieghe/Muls/Rutten 2016: 26). Längst ist der „Shift im technischen Dispositiv“ (Gellai 2018: 4) darüber hinaus auch selbst Gegenstand belletristischer und essayistischer Texte geworden, die sich nachhaltig mit den Verhaltensweisen, Ideologien und Ästhetiken des digitalen Zeitalters beschäftigen. Wie die prominenten Beispiele von Elfriede Jelineks Bühnenessay Rein Gold (2013) oder Thomas Meineckes „Twitter-Roman“ Lookalikes (2011) andeuten, stehen sich in der Gegenwartsliteratur – zugespitzt formuliert – die Positionen von „Netzpessimisten“ und „Netzoptimisten“ gegenüber (Hayer 2017: 75), insofern sie mal die regressiven, isolierenden und totalitären Dimensionen, mal die ludischen, emanzipatorischen und verbindenden Momente der online-Kommunikation betonen. Dass die sozialen Medien und der Wert der Konnektivität dabei zu zentralen Motiven der Netzliteratur und -theorie werden, lässt sich auch anhand eines Paradigmenwechsels in der ‚digital poetry‘ nachvollziehen. In seiner Studie Aesthetic Animism hat David Jhave Johnston in diesem Sinne darauf aufmerksam gemacht, dass sich der ästhetische und thematische Fokus der Cyper-Poesie in der ‚postinternet‘-Periode nun nicht länger utopistisch auf die Pole der „independence and vision“ bezieht, sondern vielmehr ein „uncertain blend of platform and process“ ins Zentrum der künstlerischen Auseinandersetzungen rückt (Johnston 2016: 57). 

 

Für den Schwerpunkt von Ausgabe # 27 der variations erbitten wir vor diesem Hintergrund Beiträge zu den folgenden Themenfeldern:

 

1) Schreibweisen der Konnektivität

 

Dave Eggers' The Circle (2013) gehört zweifelsohne zu den international meistrezipierten Romanen über soziale Medien. Wie u.a. Sibylle Bergs GRM (2019), Virginie Despentes' Vernon Subutex (2015-2017), Bernard Pivots Les tweets sont des chats (2013) oder Wen Huanjians (聞華艦Love in the Age of Microblogging (圍脖時期的愛情,2011) verdeutlichen, gibt es neben Eggers' Bestseller darüber hinaus eine ganze Reihe von Texten, die sich auf ästhetisch innovative Art und Weise mit den sozialen Medien auseinandersetzen, indem sie den durch digitale Kulturtechniken wie ‚sharen & liken‘, durch ‚fake-news‘, ‚clouds‘ und ‚Filterblasen‘ abgesteckten Erfahrungsraum narrativ greifbar machen. Von Interesse ist in diesem Kontext insbesondere die Frage nach erzählerischen Strategien, die sich auf Konnektivität, Austausch und Serialisierung beziehen und sich inhaltlich mit Schreibverfahren des Digitalzeitalters auseinandersetzen.

 

2) Theorien der digitalen Autorschaft 

 

Das Web 2.0 hat die Frage nach literarischen Autorschaftskonzeptionen neu aufgeworfen. So wie es Schriftsteller*innen möglich ist, die Aufmerksamkeit über ein spezielles ‚self fashioning‘ in den sozialen Medien auf sich als Person und auf ihre Arbeit zu lenken, lassen sich im ‚literarischen Feld‘ durch den digitalen Wandel weitere kulturelle Dynamiken beobachten, die nicht nur über das ‚sharen‘ von Texten zentrale Aspekte des Urheberrechts betreffen, sondern u.a. auch den ‚user generated content‘, der in Form von Literaturkritiken und kollektiv verfasster ‚fan fiction‘ in Foren produziert wird. Mit Franco Morettis „distant reading“-Methode (vgl. 2013) und der Copy-Paste-Ästhetik des „uncreative writing“ von Autor*innen wie Kenneth Goldsmith (2011) und Vanessa Place (vgl. 2015) sei nur auf zwei Ansätze verwiesen, an denen sich in Wissenschaft und Literatur Transformationen des traditionellen Autorschaftsverständnisses nachvollziehen lassen (zu Goldsmith/Place vgl. Haensler 2019).  

 

3) Cyper-Politiken

 

Wie die öffentlichen Debatten vergegenwärtigen, bergen soziale Medien einen immensen politischen Sprengstoff. Dabei herrscht mehr oder weniger ein Konsens darüber, dass sich die Gesellschaft in einer historischen Umbruchphase befindet. Soziale Medien sind in der Essayistik ein zentrales Motiv, um die Bevölkerung auf die Gefahren der Überwachung und Manipulation aufmerksam zu machen. Für das Thema konstitutive Ambivalenzen werden sichtbar, wenn u.a. an den Beispielen des ‚Arabischen Frühlings‘, den Protesten in Hongkong oder der ‚Fridays for Future‘-Bewegung die regimekritische, mobilisierende Kraft der sozialen Medien in Betracht gezogen wird. Damit stellt sich also auch ausserhalb der belletristischen und künstlerischen Publizistik die Frage nach Themen, Akteuren und dem medialen Ort des politischen Diskurses über das Web 2.0.

 

Bei der variations handelt es sich um ein an der Universität Zürich angesiedeltes dreisprachiges Journal mit komparatistischem sowie kultur- und medienwissenschaftlichem Schwerpunkt. Beiträge können auf Deutsch, Englisch oder Französisch verfasst sein. Themenvorschläge für Ausgabe #27 (2020) können bis zum 9.2.2020 in Form eines Abstracts (300-400 Wörter) sowie einer kurzen Bio-Bibliographie an folgende Adresse gerichtet werden: variations@rom.uzh.ch. Die Auswahl der Beiträge erfolgt im Rahmen eines peer review-Verfahrens. Bewerber*innen erhalten von der Redaktion bis Ende Februar 2020 Rückmeldung. Die fertigen Artikel sind bis spätestens 31. Mai 2020 einzureichen und sollen einen Umfang von 32‘000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) nicht überschreiten. Das Journal erscheint ab dem Sommer 2020 im Winter Verlag / Heidelberg.

 

Weitere Informationen zur variations finden Sie unter:

 

www.variations.uzh.ch

 

 

 

                                                                                                                                                       

Quellen

 

Sibylle Berg: GRM. Brainfuck, Köln 2019.

Dave Eggers: The Circle, New York 2013.

Kenneth Goldsmith: Uncreative writing : managing language in the digital age, New York 2011. 

Szilvia Gellai: Netzwerkpoetiken in der Gegenwartsliteratur, Stuttgart 2018. 

Philippe P. Haensler: Stealing styles. Goldsmith and Derrida, Place and Cixous, in: Orbis Litterarum. Volume 74 (2019), Issue 3, 1-18.

Björn Hayer: Das multiple Ich. Gegenwartsliterarische Identitätskonstruktionen im Spiegel der neuen Medien: Jelinek, Kehlmann, Glavinic, Meinecke, in: Monika Wolting (Hg.): Identitätskonstruktionen in der deutschen Gegenwartsliteratur, Göttingen 2017, 65-77.

Wen Huanjian (聞華艦): Weibo shiqi de aiqing / Love in the Age of Microblogging (圍脖時期的愛情), Shenyang Publisher 2011; Online: www.weibo.com/wbsqdaq?page=23&pre_page01&end_id=3524183151207743&max_msign=-1#1356145648785 (zuletzt abgerufen am 17.12.2019)

Elfriede Jelinek: Rein Gold. Ein Bühnenessay, Hamburg 2013.

David Jhave Johnston: Aesthetic Animism. Digital Poetry's Ontological Implications, Cambridge 2016.

Nathan Jurgenson: The Social Photo. On Photography and Social Media, London/New York 2019.

Thomas Meinecke: Lookalikes. Roman, Berlin 2011.

Pivot, Bernard: Les Tweets Sont Des Chats. Paris 2013.

Vanessa Place: Jacques Derrida interviews Vanessa Place. Outward from Nothingness (2013). Link: http://outwardfromnothingness.com/jacques-derrida-interviews-vanessa-place/ (zuletzt abgerufen am 17.12.2019)

Wolfgang Ullrich: Selfies. Die Rückkehr des öffentlichen Lebens, Berlin 2019.

Joachim Vlieghe, Jae Muls, Kris Rutten: Everybody reads: Reader engagement with literature in social

media environments, in: Poetics, Volume 54 (2016), 25-37.

 

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Redaktion: Constanze Baum – Lukas Büsse – Mark-Georg Dehrmann – Nils Gelker – Markus Malo – Alexander Nebrig – Johannes Schmidt

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