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IDIOME – Neue Prosa im Netz | Florian Neuner

Monat: Dezember, 2015

Bücher des Jahres (III): Sebastian Kiefer

9783849811143

Ulrich Schlotmanns 2009 erschienenes opus magnum Die Freuden der Jagd ist eines der faszinierendsten Sprachkunstwerke vom Beginn des 21. Jahrhunderts. Die IDIOME haben nicht nur die Entstehung dieses Textes begleitet, in dem mit einem ganzen Universum an sprachlichen Schablonen und Sprechhaltungen das Thema Männlichkeitskonstruktionen umkreist wird. Auch wurden in den »Heften für Neue Prosa« Versuche gemacht, die Rezeption  dieses Hauptwerks zeitgenössischer reflexiver Prosa voranzutreiben. So waren in Heft 3 Notizen zur Schlotmann-Lektüre von Ann Cotten zu lesen, in Heft 7 folgte ein Essay von Sebastian Kiefer mit dem Titel »Der heitere Untergang des Erzählers im übermächtigen Material«. Dort heißt es über Schlotmanns Text:

Alles ist fantastisch bunt und zugleich nihilistisch zerbröselt. Es ist eine Welt der überbordenden Sinnfülle und naturhaften Lebensvielfalt der Redeweisen – aber auch eine Welt, in der papageienhaftes Dauerplap- pern jeden klaren Gedanken erstickt. Eine schier unbegrenzte Verfügungskraft über die Totalität des Materials ist am Werke, zugleich ist die Sprechproduktion ohnmächtig der Materialübermacht ausgesetzt. Das seiner welt- und stoffbeherrschenden Ordnungssouveränität (scheinbar) beraubte Produktions-Ich jauchzt, während es erschlagen oder dissoziiert wird, und lechzt nach mehr Material, nach tieferer Verstrickung. Die textdefinierte Produktionsinstanz badet mit kindlichem Genuß in der Materialmenge und irrt zugleich zwanghaft umher zwischen auftauchenden, aufgelesenen und einschießenden Sprachfetzen, Tönen, Nachklängen, Brechungen, Verbalmüll, weil es sich gleichsam ganz ›unvernünftig‹ das Leben schwer macht in seiner obsessiven Fixierung auf Zweitverwertung. Wiewohl jede poetologische Frage wird auch diese Rolle der Zweitverwertung im Text selbst in verschiedenen Varianten durchgespielt, teils in lustvoller Imitation von »theoretischer Selbstreflexion«, teils camoufliert und wortkabarettistisch.

Vom Umfang schon damals kaum zu bändigen und auf Zeitschriftenlänge zurechtzukürzen, wuchs sich Kiefers Schlotmann-Lektüre schließlich zu einem eigenen Buch aus – zu einer der raren Studien über ein Werk avancierter Prosa, dessen Erscheinen im Aisthesis Verlag unter dem Titel »Der Mann der in den Wald (hinein)geht …« in diesem Jahr begrüßt werden durfte.

Bücher des Jahres (II): Sabine Hassinger

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Mit Sabine Hassingers Die Taten und Laute des Tages ist im Klever Verlag eine »Prosakomposition« erschienen, die auf eindrucksvolle Weise zeigt, wie mit einer reflexiven, klanglich und rhythmisch höchst kunstvoll gearbeiteten Prosa ein vielschichtiger Erzählzusammenhang adäquat gestaltet werden kann. Eine Vielzahl von Fäden entwickelt sich aus- und läuft ineinander, mehrere Perspektiven werden stets offen und präsent gehalten. Der Komplexität des »Beziehungsgeflechts« entspricht eine ebensolche sprachliche und erzählerische. In Heft 7 der IDIOME war im vergangenen Jahr ein Abschnitt aus Die Taten und Laute des Tages abgedruckt, den ich im Editorial wie folgt ankündigte – und dabei darauf hinweisen mußte, wie unglücklich die Rezeption dieses Prosaprojekts bisher sich abgespielt hatte:

Sabine Hassinger schlug eine fast beängstigende Welle an Unverständnis und Herablassung entgegen, als sie auf dem Klagenfurter Bachmann-Podium 2012 aus ihrem umfangreichen Prosa-Manuskript Die Taten und Laute des Tages las, das ausszugsweise in den IDIOMEN vorstellen zu können ich mich sehr freue. Es handelt sich um einen vielstimmigen Text, in dem mehrere narrative Ebenen kunstvoll und ohne aufdringlichen roten Faden ineinander geführt werden. In den achtziger Jahren hätte ein Literaturkritiker damit wahrscheinlich noch umgehen können. In Klagenfurt aber fiel einer der unsäglichen Jurorinnen zu dieser Prosa gleich die Literatur von Patienten des Landeskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie in Gugging ein, während eine Kollegin vom »Zeitmanagement« faselte, das es ihr nicht erlaube, sich mit komplizierter Literatur überhaupt erst zu befassen. Was hätte die versammelte Inkompetenz wohl gesagt, wenn Ingeborg Bachmann in der von ihr gehaßten Stadt aus Malina gelesen hätte?

Daß aus dem Manuskript ein Jahr später ein so lesen- und empfehlenswertes Buch werden konnte, erfreut!

Bücher des Jahres (I): Walter Pilar

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Zu den reizvollsten Aufgaben von Literaturzeitschriften zählt es zweifellos, literarische Großprojekte in ihrer Genese zu begleiten. Zu den eigensinnigsten darf man gegenwärtig Walter Pilars Lebenssee rechnen. Sebastian Kiefer spricht in seiner Rezension zutreffend davon, daß Pilar in seinem mehrbändigen »autoautopsischen Biograffäweak« sprachlich in Szene setzt, »wovon der Literaturbetrieb nur konsequenzlos redet – die Pluralisierung der schreibenden Zugänge zur Welt als Herausforderung anzunehmen. In 100 gewitzten Brechungen wird noch einmal ein Abglanz des Ganzen sichtbar.« Pilar hat erkannt, daß ein autobiographisches Projekt wie seines nach den Erfahrungen der Moderne nicht mehr mit den Roman-Mitteln des 19. Jahrhunderts umgesetzt werden kann (bzw. dann eben die ästhetische Irrelevanz eines solchen Textes zur Folge hätte) – und zieht auch in der »3. Welle« geradezu wahnwitzig viele Register, von in der Tradition der konkreten Poesie stehenden Texten und die Dialekte des Salzkammerguts aufnehmenden Lautdichtungen bis hin zu Verfahren der dokumentarischen Literatur.

Als ich Walter Pilar Anfang 2014 in seiner Lebenssee-Werkstatt in Linz besuchte, gab er tiefere und ehrlichere Einblicke in seine Arbeit, als man das gemeinhin erwarten darf. Das Material war noch in Bewegung, und längst nicht waren alle Fragen geklärt. Zur Vielfalt der Formen und Heterogenität der Materialien äußerte sich Pilar in dem in Heft 7 der IDIOME abgedruckten Werkstatgespräch wie folgt:

Welt kommt ja so daher! Es ist doch ungeheuer, was auf der Welt sich ereignet, was produziert wird, was alles in den Medien über ihre eigene, oft selbstverblendete Sicht der Welt so erscheint! Selbst innerhalb dieser regionalen Einheiten ist es ungeheuer bunt, was alles so daherflunkert und dahinflimmert. Da gibt es manchmal sprachliche oder visuelle Perlen von beeindruckender Originalität, und solche kommen auch vor, wenn sie in einen Erzählzusammenhang passen.

Im Frühjahr 2015 ist nun der 3. Lebenssee-Band erschienen – nicht gerade unbeachtet, aber doch weitaus weniger, als es einer Prosa-Großtat dieses Ranges zukäme.