Zu Protokoll (IV)
Nein, eine sensationelle Einsicht ist es gewiß nicht, auf die der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer in einem Anfang des Jahres in der Wiener Zeitung erschienenem Interview zu sprechen kam. Sehr verbreitet scheint sie bei seinesgleichen heute allerdings nicht mehr zu sein, wenn man sich vor Augen führt, wie weitgehend die Philologie inzwischen aus den Literaturwissenschaften entfernt und durch Cultural Studies ersetzt wurde. Neben hochfliegenden Thesen zum »Erscheinungsmodus des Gottes Dionysos« (Anlaß des Gesprächs ist Bohrers jüngstes Buch) erinnerte er sich:
Ich habe als Literaturkritiker begonnen und war nach meiner Promotion von der Literaturwissenschaft sehr enttäuscht. Der Grund war, dass sie an verschiedenen Themen der Literatur interessiert war, nicht aber an der Literatur selbst. Worüber man sprach – ob das Schiller oder Goethe war – es lief darauf hinaus, Ideenreferate vorzulegen, die sich auf den Sinngehalt der Dichtungen bezogen. Mir wurde jedoch bald klar – schon lange bevor die Dekonstruktion einsetzte -, dass Gedichte nicht aus Ideen bestehen, sondern aus Wörtern. Die Einsicht fand ich bei Mallarmé, der sie auf die Lyrik bezog, und sie schlug bei mir wie ein Blitz ein. Diese Einsicht habe ich auch für die literarische Prosa übernommen. Man kann sie nur adäquat erfassen, wenn man sich auf ihre Kohärenz, ihre spezifische Lautlichkeit und ihre geistige Metaphorik einlässt und sie nicht als eine Abbildung der Wirklichkeit versteht. Bereits am Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Einsicht formuliert, dass die erhaben-pathetische Dichtung – für mich ein Synonym für große, relevante Dichtung – sich nicht auf mimetische Beschreibungen der Wirklichkeit reduzieren lässt.