neue prosa

IDIOME – Neue Prosa im Netz | Florian Neuner

Monat: Januar, 2016

Zu Protokoll (IV)

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Nein, eine sensationelle Einsicht ist es gewiß nicht, auf die der Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer in einem Anfang des Jahres in der Wiener Zeitung erschienenem Interview zu sprechen kam. Sehr verbreitet scheint sie bei seinesgleichen heute allerdings nicht mehr zu sein, wenn man sich vor Augen führt, wie weitgehend die Philologie inzwischen aus den Literaturwissenschaften entfernt und durch Cultural Studies ersetzt wurde. Neben hochfliegenden Thesen zum »Erscheinungsmodus des Gottes Dionysos« (Anlaß des Gesprächs ist Bohrers jüngstes Buch) erinnerte er sich:

Ich habe als Literaturkritiker begonnen und war nach meiner Promotion von der Literaturwissenschaft sehr enttäuscht. Der Grund war, dass sie an verschiedenen Themen der Literatur interessiert war, nicht aber an der Literatur selbst. Worüber man sprach – ob das Schiller oder Goethe war – es lief darauf hinaus, Ideenreferate vorzulegen, die sich auf den Sinngehalt der Dichtungen bezogen. Mir wurde jedoch bald klar – schon lange bevor die Dekonstruktion einsetzte -, dass Gedichte nicht aus Ideen bestehen, sondern aus Wörtern. Die Einsicht fand ich bei Mallarmé, der sie auf die Lyrik bezog, und sie schlug bei mir wie ein Blitz ein. Diese Einsicht habe ich auch für die literarische Prosa übernommen. Man kann sie nur adäquat erfassen, wenn man sich auf ihre Kohärenz, ihre spezifische Lautlichkeit und ihre geistige Metaphorik einlässt und sie nicht als eine Abbildung der Wirklichkeit versteht. Bereits am Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Einsicht formuliert, dass die erhaben-pathetische Dichtung – für mich ein Synonym für große, relevante Dichtung – sich nicht auf mimetische Beschreibungen der Wirklichkeit reduzieren lässt.

Für die Versenkung

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Es gibt ihn noch, den literarischen Underground – wenn auch nicht unbedingt immer dort, wo irgendwelche Kneipenrebellen sich dafür halten. Otfried Rautenbach freilich darf für sich beanspruchen, mit PФRART, der »Zeitschrift für die Versenkung«, tatsächlich so etwas wie literarische Gegenöffentlichkeit zu organisieren. Die in seinem Heidelberger Verlag für Privatdrucke im 8. Jahrgang erscheinenden Hefte halten noch immer die Copy-Shop-Ästhetik hoch, welche die allermeisten Literaturzeitschriften bis in die neunziger Jahre prägte. Das ist erfrischend angesichts der vielen perfekt und glatt daherkommenden Zeitschriften, die selten so etwas wie ein inhaltliches Anliegen haben. Als Verleger erwarb Rautenbach sich schon in den sechziger Jahren mit dem Verlag Hagar große Verdienste. Dort erschienen Texte und Partituren u.a. von Schuldt und Michael von Biel, auch Gunter Falks Début Der Pfau ist ein stolzes Tier.

Im aktuellen Heft 14 hat Rautenbach Falks »Aufwartung« nachgedruckt – einen Text, der ausschließlich aus comicartigen Ausrufen wie »schnarch«, »poch«, »schmatz« und »quietsch« besteht. Er bringt aber auch Arbeiten von Peter Engstler, Andreas Hansen und Florian Neuner. Und wenn man in der »Zeitschrift für die Versenkung« auch auf IDIOME-Autoren wie Jörg Burkhard, Bert Papenfuß und Jürgen Schneider trifft, dann ist das kein Zufall.

PФRART ist für 2.–€ erhältlich im Verlag der Privatdrucke von Otfried Rautenbach, Handschuhsheimer Landstr. 92 B, 69121 Heidelberg.

Bücher des Jahres (IV): Elisabeth Wandeler-Deck

9783905846362

Das neue Buch der Schweizer Sprachkünstlerin Elisabeth Wandeler-Deck, die mit einem Werkstattgespräch und zwei Prosatexten im Mittelpunkt der 8. Ausgabe der IDIOME steht, trägt den geheimnisvollen Titel Das Heimweh der Meeresschildkröten – die Autorin zögerte, wie sie selbst berichtet, und fand ihn dann doch unausweichlich. Wandeler-Decks autoreflexive Prosa überläßt sich durchaus der Eigenbewegung der Sprache. Und dennoch gibt es auch immer so etwas wie einen Widerpart zu diesem sprachimmanenten Ansatz, den man vielleicht als thematisch oder inhaltlich bezeichnen könnte – eine Fragestellung von außerhalb der Literatur, so etwas wie ein Forschungsinteresse. Im Falle ihres neuen Prosabandes standen ein Aufenthalt im niederösterreichischen Krems und ein daraus resultierendes Interesse am Donauraum ebenso Pate wie eine Oper von Annette Schmucki, der Widmungsträgerin des Buches, durch die Wandeler-Decks Leidenschaft für die Figur der Diva geweckt wurde. In den IDIOMEN Nr. 6 bereits konnten Leser Eindrücke von diesem »Donau-Diven-Projekt« gewinnen, aus dem 2015 ein Buch wurde. Zu ihrer Arbeitsweise sagte Elisabeth Wandeler-Deck im Werkstattgespräch:

Für die letzten zwei oder drei Prosabände habe ich Alphabete als Notizdateien angelegt. Ich verwende sehr verschieden geartete Notizdateien. Beim letzten Prosaband, beim vorletzten auch, habe ich Alphabete gemacht, Stichworte, wie wenn’s für ein Lexikon wäre – Wortmaterial, Satzmaterial, Wortfragmente, ganze Textversuche, aber auch Lexikalisches. Und das ergibt dann auch so ein Hin und Her am Text, der dann Text für das Buch wird oder für den kleineren Text, der sonstwo publiziert wird. Dieses Weitertreiben der Notizdatei – das werden eigentlich auch eigene literarische Formen , die ich einfach nie bis zur Publikationsreife weitergetrieben habe … Ansätze oder Anfänge, und bei den »Diven« sind das Stimme und Körper oder auch Sätze von Diven oder Donau-Sätze, weil die Donau vorkommt, ganz andere Arten von Stichwörtern. Vielleicht ist es bei der improvisierten Musik ähnlich.