London, das ist die Themse, der Big Ben, Piccadilly Circus und der Buckingham Palace, ein bisschen Royals und Kate Moss, Soho hier, Shoreditch da und überhaupt: viel Glamour. Doch nicht bei Zadie Smith: Ihr Roman „London NW“ zeigt die andere Seite der Stadt, Wohnhaussiedlungen, Armut und Drogen.
Welche Rolle spielt die Hauptfarbe für den eigenen Lebensentwurf, die soziale Situation, die Zukunft? Im Nordwesten (also NW, daher der Titel des Romans) Londons ist die Hauptfarbe zwar nicht gleichgültig geworden und auch Rassismus gehört nach wie vor zum Alltag, trotzdem ist dieses Thema hier weniger relevant als in reicheren Stadtteilen. In NW sind alle Bewohner Teil der gleichen niedrigen Schicht, sitzen alle im selben Boot, das ständig zu sinken droht.
Leah und Natalie, die beiden Protagonistinnen in Zadie Smiths „London NW“, stammen aus diesem Randbezirk und wachsen gemeinsam auf. Leah ist Weiße (allerdings, und auch das spielt eine Rolle, Irin und keine Engländerin) und Natalie schwarz. Was steckt in einem Namen? Getauft wurde sie auf den Namen Keisha, doch als sie sich verbissen die soziale Leiter hochkämpft, sucht sie sich einen Namen, der weniger leicht zuzuordnen ist. „So ‘ne Kokosnuss. Außen braun, innen weiß“, sagt eine Frau zu Leah über ihre beste Freundin. Sie kennt Leah und Natalie aus der Schule, denn hier in NW kennen sich alle irgendwie – bis auf wenige Ausnahmen schafft es keiner aus dem Viertel. Natalie allerdings hat sich durchgesetzt. Während Leah einen stabilen Job hat, bleibt sie dennoch fest verankert in der Gesellschaft, in der sie aufwuchs. Natalie hingegen hat sich durch ihren Eifer und schließlich dank ihrer Ehe mit dem ebenfalls dunkelhäutigen Francesco in die Oberschicht eingegliedert. Hautfarbe spielt in „London NW“ zwar eine Rolle, determiniert aber nicht zwangsläufig das ganze Leben. Viel wichtiger ist die Herkunft, die Zugehörigkeit zu NW, die die Bewohner immer wieder einholt: „Und beide glaubten, ihre jeweilige Ansicht verdanke sich objektiven Überlegungen und sei in keiner Hinsicht ihrer gegensätzlichen Herkunft geschuldet.“
Natalie bezahlt für ihr neues Leben einen hohen Preis: den Verlust der eigenen Identität. Der größte Teil des Romans, der in fünf Kapitel gegliedert ist, ist ihr gewidmet. Mehrfach wird erwähnt, dass sie sich nur durch die Außenwahrnehmung anderer definiert und selbst keine eigene Persönlichkeit hat. „Tochter-Rolle. Schwester-Rolle. Mutter-Rolle. Ehefrau-Rolle. Anwältinnen-Rolle. Reichen-Rolle. Armen-Rolle. Briten-Rolle. Jamaika-Rolle. Jede Rolle verlangte eine andere Kostümierung.“ Natalies fragmentierte Selbstdarstellung und Identitätsstörung manifestiert sich in einem Doppelleben, das sie im Internet führt.
Keishas/Natalies gesamtes Leben ab dem Alter von vier Jahren ist in kurzen, temporeichen Paragraphen erzählt. Durch die Ausführlichkeit ihres Kapitels ist Natalie die Figur, die dem Leser am lebendigsten wird. Leah hingegen, der der erste Teil des Romans gewidmet ist, bleibt in ihren Entscheidungen unnahbar. Sie ist als eine Frau skizziert, die trotz ihres Alters (alle Protagonisten sind Anfang bis Mitte dreißig) krampfhaft an ihrer Jugend festhält und nicht erwachsen werden will. Da ist einem Junkie Nathan, der gegen Ende von „London NW“ eine kleine, aber wichtige Rolle spielt und Natalie in ihrer dunkelsten Stunde kurz begleitet, eine plastischere Figur.
Die Kapitel der beiden Frauen werden durch die Perspektive Felix unterbrochen, der mit Leah und Natalie nicht bekannt ist, aber das Panorama der Bewohner NWs erweitert. Der Leser durchlebt einen Tag in seinem Leben: Vom Besuch bei seinem verkifften Vater geht es weiter zu Felix‘ ehemaliger Geliebten. Felix, der inzwischen in einer festen Beziehung ist und den Drogen entsagt hat, möchte sich endgültig von ihr verabschieden. Doch NW ist NW und Felix ist weder vor eigenen Fehlern gefeit noch ist ihm ein glückliches Leben vergönnt. NW gewinnt immer.
Die Teile des Romans sind in sehr unterschiedlichen Stilen, zwischen konventioneller Narration und Stream-of-consciousness, gehalten, die zeigen, wie virtuos Zadie Smith ihr Fach beherrscht. Smith beschreibt eine Generation, die emanzipiert in ihren Entscheidungen und trotzdem (oder gerade deswegen) zerrissen und leer ist. „London NW“ ist ein polyphoner und temporeicher Großstadtroman, der kalt bleibt und Hoffnungslosigkeit verbreitet. Aber halt, ein bisschen Hoffnung gibt es doch: Zumindest die entfremdeten Freundinnen Natalie und Leah finden wieder zusammen.
Zadie Smith – London NW
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Deutsche Erstausgabe erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, 2014
Goldmann, München
Februar 2016, 428 Seiten
#supportyourlocalbookstores
Auch besprochen bei