Normalsterbliche und vor allem „Buchmenschen“ haben diese Aussicht selten: Die Lesung mit Tilman Rammstedt im Rahmen des biennalen Frankfurter Literaturfestivals literaTurm findet im 29. Stock des Opernturms statt – und dank der großzügigen Fenster gibt’s zusätzlich zur Lesung eine tolle Aussicht auf den Süden und Osten der Stadt.
Nach einer Einleitung des Rechtsanwalts Jörg Siegels, der eine recht witzige, aber deplatziert wirkende Rede über den Alltag in einer internationalen Kanzlei hält, rücken Tilman Rammstedt und Björn Jager, Leiter des Hessischen Literaturforums, ihre Mikrophone zurecht. Das Thema des diesjährigen literaTurms lautet „Der entgrenzte Text“ und passt bei Rammstedt wie die Faust aufs Auge. Der Entstehungsprozess seines vierten Romans „Morgen mehr“, der am 25. Juli im Hanser Verlag erscheint, folgte einem ungewöhnlichen Ansatz und deswegen unterhalten sich Tilman Rammstedt und Björn Jager zunächst über dieses Konzept. Vor einigen Jahren wurde Rammstedt von einem frisch gegründeten E-Book-Verlag gefragt, ob er nicht zufällig einen Text in der Schublade habe, der sich für ein E-Book eigne. „Ich habe nie was in der Schublade“, erklärt Rammstedt. Ihm kam aber die Idee, ein „Abo-Modell“ zu kreieren, für das er jede Woche eine Kurzgeschichte schreiben wollte. Als er seinem eigentlichen Verleger davon erzählte, zeigte sich dieser ebenfalls begeistert von dem Gedanken. „Und dann eskalierte das Ganze“, schmunzelt der Autor. Schnell entwickelte sich aus wöchentlichen Kurzgeschichten der Plan, über drei Monate hinweg täglich ein Romankapitel zu verfassen. Der Clou: Eigenen Angaben zufolge hatte Rammstedt außer dem groben Plot, dass ein noch ungeborener Ich-Erzähler seine Eltern zusammenführen muss, keine Vorstellung davon, wie der Roman aussehen sollte und entsprechend vorher auch keine Zeile geschrieben. „Natürlich hatte ich überlegt, Monate vorher schon mit dem Schreiben zu beginnen“, verrät Rammstedt. „Aber zwei Tage vorher hatte ich nur die Grundidee entwickelt. Und irgendetwas hielt mich auch davon ab, zu schummeln.“
Er sei bekannt für seine Schreibblockaden, spricht Jager an. Rammstedt bestätigt das; „Morgen mehr“ war somit auch ein „therapeutischer Ansatz“, um die eigenen Zweifel im Zaum zu halten. „So konnte ich nicht vier Wochen bis vier Monate Zweifelpause einlegen… nach jedem dritten Satz“, scherzt der Schriftsteller. Die größte Herausforderung dabei war nicht einmal das Schreiben ins Ungewisse, sondern die Schnapsidee, jeden Abend ein Preview in Form von What’s-App-Emojis zu verschicken. Gelächter im Raum. „Ich hätte nicht gedacht, dass das jemand ernsthaft abonniert, aber zwölf Leute haben das getan.“
Und so schrieb Rammstedt drei Monate lang fleißig Kapitel für „Morgen mehr“. Inzwischen arbeitet er an der Romanfassung, für die er allerdings nur wenig verändert. „Die Hauptarbeit besteht darin, den Anfang anzugleichen, damit er zum Ende passt, außerdem schmeiße ich ein paar grauenhafte Kapitel raus.“ Inhaltlich wird die Handlung etwas gestrafft: Ursprünglich sollte der Ich-Erzähler drei Monate, also über die Dauer des Abos, Zeit haben, um die Eltern miteinander bekanntzumachen. Im Roman wird es ein Tag sein, in denen die Mutter aus den Armen eines schwermütigen Franzosen gerissen und der Vater, der kurz davor steht, mit einzementierten Beinen im Main zu landen, gerettet werden muss, um beide schließlich in Paris zu vereinen. Ja, der Roman spielt teilweise in Frankfurt, auch wenn die Stadt nicht oft genannt wird. „Ich brauchte etwas Westdeutsches mit Fluss“, so Rammstedt ganz pragmatisch. Immerhin: Die Frankfurter Wasserhäuschen werden erwähnt.
Im weiteren Gespräch bekennt Tilman Rammstedt, dass er es furchtbar findet, „wenn Romane eine Metaebene über das Schreiben einfügen.“ Da stutzt ein jeder, der schon mal ein Buch Rammstedts in der Hand hatte und auch der Moderator Björn Jager hakt nach, immerhin ist Rammstedt für seine Metaebenen bekannt. Rammstedt nimmt’s gelassen: „Das ist ein normaler Zustand im Leben eines alternden Mannes: Realismuskritik“, sagt der 41jährige. Großer Fan eines rigorosen Realismus sei er sowieso nicht: „Dann würden mir ja ganz viele Ebenen nicht zu Verfügung stehen.“ Und letztlich ist in „Morgen mehr“ vieles, was geschieht, nicht sonderlich wahrscheinlich. „Es gibt in dem Fall also nichts Praktischeres als einen unglaubwürdigen Erzähler!“
literaTurm im OpenTurm
06. Juni 2016
Tilman Rammstedt – Morgen mehr (Hanser)
Moderation: Björn Jager
Tilmans Lektor, der Hanser-Programmleiter Jo Lendle, hat einen köstlichen Kommentar zur Arbeit an „Morgen mehr“ geschrieben. http://jolendle.de/wordpress/bausatz-romanentstehung
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