Kate Tempest – Worauf du dich verlassen kannst

Sie sind jung, doch sie fühlen sich, als wäre das Leben bereits an ihnen vorbeigerauscht: Vier Londoner auf Sinnsuche sind die Protagonisten in Kate Tempests schnodderig-lyrischen Debütroman „Worauf du dich verlassen kannst“.

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„Alle sind auf der Suche nach ihrem persönlichen Quäntchen Sinn. Nach irgendeiner flüchtigen Vollkommenheit, die ihnen das Gefühl geben könnte, lebendig zu sein.“

Kein Text über Kate Tempest, in dem nicht erwähnt wird, was für ein Multitalent die junge Londonerin ist: Rapperin, Lyrikerin, Poetry Slammerin und jetzt auch Schriftstellerin. „Worauf du dich verlassen kannst“ lautet die deutsche Version ihres Debütromans „The Bricks That Built The Houses“, der rund einen Monat nach der Veröffentlichung in England diesen Mai im Rowohlt Verlag erschienen ist. Im Juni folgte die zweisprachige Ausgabe ihrer Gedichte bei Suhrkamp.

Tempest schreckt vor den großen Themen nicht zurück: Familie, Freundschaft, Liebe, Drogen, Gentrifizierung und vor allem die Sinnsuche der Protagonisten, ihre Einsamkeit und der Versuch, erwachsen zu werden, sind die Motive, aus denen ihr Roman besteht. „Worauf du dich verlassen kannst“ erzählt die Geschichte einer Handvoll Londoner Mitte, Ende 20, die durch das Leben und ihre Heimatstadt mäandern. Becky hofft im Alter von 26 Jahren noch immer auf den Durchbruch als Tänzerin, finanziert sich aber durch erotische Massagen in Hotelzimmern. Die androgyne Harry und Leon, ihr bester Freund von Kindesbeinen an, dealen mit Kokain, während Pete, Harrys Bruder, lieber bei seinem Vater lebt, als zu arbeiten – mit einem Uniabschluss in der Tasche fühlt er sich zu Höherem berufen. Die Wege der Figuren kreuzen sich immer wieder, Pete und Becky verlieben sich ineinander, doch auch Harry hat es Becky angetan. Ihnen allen ist gemein, dass sie ihr Leben auf zynische Weise von außen betrachten und kaum Kraft finden, dem selbstkreierten Trott zu entfliehen: „Als hättest du zwei Leben. Aber welches ist das echte? Welches ist das, das du tatsächlich lebst?“

Tempest legt nicht nur Wert auf die Geschichten ihrer jungen Protagonisten, auch die Eltern bekommen individuelle Vergangenheiten, die ausführlich dargelegt werden. Diese eingeschobenen Stories unterbrechen den Fluss des Plots zwar, erweitern aber zugleich das Panorama von „Worauf du dich verlassen kannst“ und verdeutlichen: Es sind durchweg zerrüttete Familien, aus denen die Charaktere stammen. „Wir sind einsam. Wir sind alle so einsam in dieser Stadt. Wir brauchen Orte, wo wir hingehen können. Glaub ich“, sagt Harry zu Beginn des Romans. Diese Melancholie, die Suche nach Zugehörigkeit und einer besseren Zukunft, bestimmen die Figuren und somit auch den Grundton des ganzen Buchs.

Was Kate Tempests Stimme deutlich von der anderer Schriftsteller unterscheidet, sind die ungewöhnlichen, mitunter gewöhnungsbedürftigen Bilder und Metaphern, die in ihrem Debüt häufig vorkommen und auf die sich der Leser einlassen muss: „Pete zündet die Bombe, die er vor die Brust geschnallt hat, und sein Körper explodiert und verspritzt seine Eingeweide im ganzen Zimmer“, werden beispielsweise Petes Gefühle beschrieben. Tempest bedient sich eines emotionalen, überschwänglichen, manchmal fast pathetischen Stils, der sie von vergleichbaren Romanen abhebt, in denen die Autoren auf ironische Distanz zu ihren eigenen Figuren gehen.

Auch wenn im Roman die Menschen, ihre Schicksale und Konstellationen, im Vordergrund stehen, so ist „Worauf du dich verlassen kannst“ ebenso durch und durch ein London-Roman. Becky, Pete, Harry und Leon beschäftigen sich ununterbrochen mit dem Überleben in der teuren und widersprüchlichen Stadt und nehmen die gentrifizierungsbedingten Veränderungen in ihrer Nachbarschaft war. Die Beschreibungen flüchtiger Straßenszenen und peinlicher Familientreffen gewähren Einblicke in den Alltag Londons – oder zumindest den der unteren Mittelschicht – und machen den Roman lebendig. Ironischerweise spielt Tempests London-Roman nicht auf der „richtigen“ Seite der Themse, sondern in South London, einer Gegend, die als „uncool“ gilt.

„Worauf du dich verlassen kannst“ besticht durch die Entwicklung der Figuren, den filmreifen Plot, der mit einem geklauten Koffer voller Geld eröffnet wird, und dem Rhythmus der Sprache. Allein die Erzählstimme ist mitunter merkwürdig; es sind hie und da wertende Kommentare wie „[e]in Ergebnis ihres Reichtums, ihrer gute Erziehung, ihrer moralischen Grundsätze und eines ehrlichen, wenn auch manchmal fehlgeleiteten liberalen Gutmenschentums“, eingestreut, die deplatziert wirken. Das ist aber auch der einzige Kritikpunkt. Tempests Stimme ist schnodderig, sie wirkt nie aufgesetzt, sondern immer authentisch. Wer ins Original reinliest, erkennt, dass es unmöglich ist, Tempests einzigartigen Tonfall zu übertragen – Karl und Stella Umlaut haben dennoch hervorragende Arbeit geleistet.

Ich persönlich sehe „Worauf du dich verlassen kannst“ schon als Gangsterfilm mit ironischen wie melancholischen Dialogen und rasanten Szenen, die in den Straßen und Kneipen Londons spielen, in den Kinos. Regie: Guy Ritchie.

Kate Tempest – Worauf du dich verlassen kannst
Aus dem Englischen von Stella und Karl Umlaut
Rowohlt, Reinbek
398 Seiten, Mai 2016

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