Das Buch, über das alle schon vor seinem Erscheinen redeten: „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara ist eine intensive Lektüre über die körperlichen und seelischen Qualen eines Mannes. Trotz der knapp tausend Seiten ist kein Wort in diesem Roman zu viel – eher zu wenig.
„Er will von dir hören, dass sein Leben, so unbegreiflich es auch sein, mag, trotz allem ein Leben ist.“
Sie heißen Willem, Malcolm, Jude und JB und sind seit dem College beste Freunde. Sie teilen die gleichen Sorgen: Selbstverwirklichung, Angst vor der Zukunft, in New York zu bestehen, das Leben an sich. Über Malcolm heißt es an einer Stelle, er erstelle „Listen darüber, was er im kommenden Jahr, und zwar möglichst rasch, in Angriff nehmen müsse: seine Karriere (stagnierend), sein Liebesleben (nicht existent), seine sexuelle Orientierung (unklar), seine Zukunft (ungewiss).“ Und auch seinen Freunden geht es nicht anders. „Wann überschritt man beim Verfolgen seiner Träume und Ziele die Linie zwischen tapfer und töricht? Woher wusste man, wann man aufhören musste?“, gehört zu den Fragen, die JB, Willem und Malcolm umtreiben. Kurzum: Ihr Leben ähnelt dem anderer Mittzwanzigjährigen.
Jude jedoch fällt aus der Reihe. Bereits als sie ihn kennenlernen, merken JB, Malcolm und Willem, dass er sich von ihnen unterscheidet. Er hat Schwierigkeiten beim Laufen und trägt selbst im Hochsommer am Strand langärmlige Hemden. Gravierender, das wird den drei Freunden schnell klar, sind aber seine seelischen Narben. Jude spricht nie von der Vergangenheit und die ihm Nahestehenden lernen, nicht nachzuhaken. Jude ist sich seiner Rolle als Außenseiter schmerzhaft bewusst. „Er fühlte sich oft weniger wie jemand, der aus einem anderen Land kam… als wie jemand, der einer anderen Zeit entstammte: Er hätte auch im neunzehnten Jahrhundert aufgewachsen sein können, so viel hatte er offenbar verpasst.“
Während sich der Beginn des Romans um das Leben aller Freunde dreht, die Perspektive mehrfach wechselt und auch von JBs, Malcolms und Willems Vergangenheit und gegenwärtigen Problemen berichtet wird, bricht Hanya Yanagihara bald mit ihrer eigenen Struktur. Spätestens nach zweihundert Seiten steht nur noch Jude im Mittelpunkt und mit ihm teilweise Willem, der sich als sein treuster Lebensgefährte erweist. Obwohl „Ein wenig Leben“ zwanzig, dreißig Jahre aus dem Leben der Charaktere schildert, bleiben die anderen Figuren bald hinter Jude zurück. Malcolm und JB werden nicht plastischer beschrieben als die beiden Henry Youngs oder andere Vertraute aus Judes Umfeld, die regelmäßig auftauchen, aber nur einen Teil der Kulisse darstellen. Judes späterer Ziehvater Harold und sein Arzt Andy sind lebendiger geschildert und somit dem Leser näher als seine alten Freunde. Im weiteren Verlauf schwenkt die Handlung ein letztes Mal auf JB; doch auch in dieser Episode, die von seiner Drogenabhängigkeit erzählt, spielt Jude eine wichtige Rolle. „Ein wenig Leben“ erzählt nicht von der Freundschaft dieser vier Männer, sondern von Judes Leben. Was genau JB, Jude, Malcolm und Willem miteinander verbindet, warum sie befreundet sind, wird nie ganz schlüssig gezeigt. Sie sind Freunde, weil die Umstände, das College, sie zusammengeführt haben. Aber warum bleiben sie beieinander? Auch die Autorin zweifelt mitunter an ihrer Freundschaft: „Es war, als hielten sie ihre Freundschaft am Leben, indem sie Bündel von Kleinholz in ein kaum noch schwelendes Feuer warfen.“ Sie sind nicht aus romanimmanenten Gründen befreundet, sondern weil ihre Schöpferin das so beschlossen hat und der Leser dies als Tatsache akzeptieren muss.
Jude also. Es wird früh angedeutet, dass er eine schwere Vergangenheit hat. Doch während „Ein wenig Leben“ zu Beginn wie ein klassischer Coming-of-Age-, Künstler- und New-York-Roman samt all den Höhen und Tiefen, die zu erwarten sind, anmutet, so ändert sich mit dem Fokus auf Jude auch die Stimmung, wird dunkler und abgründiger. Erzähltechnisch dicht treibt Hanya Yanagihara die Handlung voran, während der Leser in Rückblicken häppchenweise die grausamen Details aus Judes Kindheit im Kloster und später im Heim erfährt. Fast mag man rufen: Genug! Ist das nicht eine Schippe zu viel, too much melodrama? Muss Judes Kindheit wirklich von vorne bis hinten so schrecklich sein, ihn wirklich jeder Mensch enttäuschen? In Anbetracht der frühen Folter, Demütigungen und Vergewaltigungen schockt Dr. Traylor, den Jude als Teenager kennenlernt und dessen Gräueltaten erst gegen Ende des Romans erzählt werden, nur noch wenig. Der krasse Kontrast zu Judes Erlebnissen bis er 16 Jahre alt ist und sich alles für ihn ändert, ist sein späteres Leben. Alle, die ihn kennen, lieben, respektieren oder fürchten ihn zumindest. Harold, Andy und Willem sind weißstrahlende Engel ohne Fehler, die Männer in Judes Vergangenheit dagegen die Verkörperungen des Bösen. In „Ein wenig Leben“ ist wenig Platz für Charaktere in Graustufen. Trotz der vielen Narben wird Jude als höchst attraktiver Mann beschrieben, er kann Piano spielen, singen, belegt ohne Mühe Seminare in Mathematik und Jura und wird später ein hochangesehener Anwalt. Wo sich Willem und er einst eine Bruchbude in der Lispenard Street teilen mussten, wird er später Eigentümer eines großen Lofts unweit seiner alten Wohnung.
Gänzlich irrelevant sind übrigens die Frauen in dem Roman. Die einzige Frau, die eine Rolle in Judes Leben spielt, ist Julia, und auch diese Figur funktioniert nur als Anhängsel Harolds, als seine Ehefrau. Im Gegensatz dazu scheint es Yanagihara extrem wichtig zu sein, möglichst viele homosexuelle Charaktere einzubauen (lies: Schwule, denn lesbische Frauen kommen ebenfalls nicht vor). Das soll keine Kritik an vielen LGBT-Figuren sein, ganz im Gegenteil, ich freue mich über mehr diversity in Romanen. Nur treibt es Yanagihara mitunter auf die Spitze, was zulasten der Authentizität geht. Und während zu Beginn der Handlung kurz erwähnt wird, welche Hautfarbe Jude, JB, Willem und Malcolm haben, so spielt das für alle Figuren keine weitere Rolle. Es ist einerseits angenehm, dass Yanagiharas Romanhelden nicht auf ihre Ethnie reduziert werden, sondern einzig die Persönlichkeit von Bedeutung ist, andererseits ist es befremdlich, dass sie niemals Rassismus und Diskriminierung erleben.
Eine weitere Eigentümlichkeit des Romans ist die Blase, in der sich die Handlung abspielt. Sie ist keiner Epoche zuordenbar, selbst Begriffe wie „E-Mail“ oder „SMS“ werden erst spät und nur sporadisch verwendet. Es werden keinerlei politischen, gesellschaftlichen, kulturellen oder popkulturellen Ereignisse oder Namen erwähnt. Die Straßen New Yorks sind in all ihren Details beschrieben – aber 9/11 beispielsweise gibt es in „Ein wenig Leben“ nicht. Es ist eine ganz eigene Welt, die Yanagihara kreiert hat. Dieser selbstbezogene Kosmos wird auch in JBs Kunst deutlich: Nicht nur, dass sich die Figuren nie voneinander lösen können, JB macht die Freundschaft der Vier zu seinem Lebensinhalt, indem er ihre Entwicklung über Jahrzehnte hinweg dokumentiert. Seine Bilder landen später im Whitney Museum, es hat sich für ihn also gelohnt.
Die einzelnen Kritikpunkte sollen nicht bedeuten, dass „Ein wenig Leben“ nicht große Literatur sei. Sie ist es, ohne Frage. Yanagiharas Stil ist brillant, sie dringt tief in die Psyche Judes vor, hat ein Auge fürs Detail und verliert bei all dem Schmerz, der über hunderte von Seiten hinweg geschildert wird, auch nie den Sinn für Humor. Insbesondere die Abhängigkeit von Jude zu Bruder Luke, seiner ersten Bezugsperson, ist sehr plausibel und einfühlsam dargestellt. Trotz des jahrelangen Missbrauchs, der ungeahnte Ausmaße annimmt, kann Jude ihn nicht hassen. Jahrzehnte später fürchtet er Bruder Luke zwar immer noch, rückt aber nicht von der Meinung ab, er habe ihn, Jude, geliebt.
„Ein wenig Leben“ ist ein großes, ein großartiges Werk. Es erstaunt bei knapp tausend Seiten, dass kein Wort (naja, Jude entschuldigt sich zu oft), dass fast kein Wort zu viel ist, sondern eher zu wenig: Gern hätte man als Leser mehr über JBs und Malcolms Leben über das Alter von dreißig hinweg erfahren, gern hätte man Yanagiharas Stimme und ihren unter die Haut gehenden Schilderungen weitergelauscht. Denn trotz der Handvoll Punkte, die man kritisieren kann, gehört „Ein wenig Leben“ zweifellos schon jetzt zu den wichtigsten Romanen des Jahres. Es ist große, großartige Literatur.
Zum Weiterlesen: Sylvia Plath – Die Glasglocke
Hanya Yanagihara – Ein wenig Leben
Aus dem Englischen von Stephan Kleiner
Hanser, Berlin
Januar 2017, 958 Seiten
Auch besprochen bei
Leseschatz
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Ich hab deinen Text sehr gern gelesen. Du sprichst genau die Dinge an, die ich auch als störend empfunden habe. Dieses ewige ES TUT MIR LEID. Und auch, dass es irgendwann fast nur noch um Jude geht und die drei Freunde seltsam blass werden. Dennoch – große Literatur, da stimme ich dir unbedingt zu!
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Eine hervorragende, großartig geschriebene Rezension, danke dafür! Ich kannte novellieren.com bislang noch nicht, aber ich glaube, ich werde in Zukunft häufiger hereinschauen. Bitte gern weiter so!
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Danke euch beiden! :-)
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Ich war schon etwas skeptisch bei dem ganzen Rummel um dieses Buch. Die Skepsis ist zwar etwas geblieben aber Deine – und einige wenige andere – Buchbesprechungen haben mich dann doch überzeugt und ich habe gestern zugeschlagen.
Ich freu mich drauf!
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