John Freeman Gill – Die Fassadendiebe

John Freeman Gill reiht sich mit seinem Debütroman in die lange Liste derer ein, für die das Manhattan der siebziger Jahre der Sehnsuchtsort schlechthin ist. Sein jugendliches Alter Ego Griffin geht in „Die Fassadendiebe“ gemeinsam mit seinem Vater nachts auf Wasserspeier-, Skulpturen- und Dekoelementejagd.

Das Prä-Giuliani-und-Bloomberg-New-York, vor allem das Manhattan der siebziger und achtziger Jahre, ist zu einem Sehnsuchtsort mehrerer Generationen geworden. Gerade diejenigen, die diese Zeit niemals miterlebten, trauern ihr hinterher. Dies ist kein neues Gefühl, aber in den letzten Jahren greift es immer weiter um sich, nicht zuletzt popkulturell gesehen. Serien wie „The Get Down“, „Vinyl“ oder „The Deuce“ versuchen mehr oder weniger gelungen, diese vergangene Ära wieder aufleben zu lassen, und Portale wie Flavorwire, My Modern Met, Mashable oder New York Daily News posten mit fröhlicher Regelmäßigkeit Fotos aus einem „gritty old New York“ (oder sind gegen diese Romantisierung wie das New York Magazine) und nicht zuletzt boomen Romane wie „City on Fire“ und andere, die den deutschsprachigen Markt nicht erreichen. Auch der Autor John Freeman Gill macht keinen Hehl daraus, wie sehr er die Siebziger vermisst. „Warum bleiben wir?“, fragt er im ersten Satz seines Debütromans „Die Fassadendiebe“. Was hält die New Yorker in ihrer Stadt, in der alles, was später im kollektiven Gefühl der Nostalgie verankert sein wird, einem Starbucks, einem Whole Foods oder einem verspiegelten Hochhaus weichen muss? Quigley, die Schwester seines Protagonisten Griffin, erträgt diese Entwicklung nicht: „Ich habe keine Lust mehr, in New York ständig Heimweh nach New York zu haben.“

Ohne Umschweife verdeutlicht Freeman Gill somit schon auf der ersten Seite, was sein Thema sein wird: Das Manhattan der siebziger Jahre wiederaufleben zu lassen. „Jeder New Yorker hat sein ureigenes kartografisches System… eine verzerrte, aber doch der Wahrheit entsprechende Darstellung New Yorks, in der verschwundene Gebäude und Geschäfte mindestens so gegenwärtig sind wie noch existierende.“ Der dreizehnjährige Griffin wird von seinem entfremdeten Vater darin geschult, diese Gebäude wahrzunehmen, die im Begriff sind, zu verschwinden. Zunächst aus Liebe zu seinem Dad, später aus eigenem Interesse beginnt Griffin mit seinen Streifzügen durch die Nacht, begleitet von seinem Vater, aber auch allein. Ihr Augenmerk gilt den dekorativen Elementen, die Portale, Türme, Brücken und Fassaden schmücken und die sie klauen, restaurieren und verkaufen. Griffins Vater sagt und glaubt dies vermutlich sogar, dass ihm als New Yorker diese Fragmente gehören, die eh nur auf der Mülldeponie landen würden. Oft findet er seine Reste aber nicht in den Trümmern abgerissener Gebäude, sondern montiert sie aktiv ab. Er liebt diese Gegenstände aus Stein, Eisen, Terrakotta einerseits, beraubt sie andererseits ihres natürlichen Lebensraums. Er versucht alles, um das alte New York vor dem Erneuerungswahn zu bewahren. Dass er regelmäßig das Leben seines Sohns aufs Spiel setzt, ist ihm gleichgültig. Und letzterer macht immer wieder mit, in der Hoffnung, Aufmerksamkeit von seinem Vater zu bekommen, die ihm kaum zuteilwird. „Es ist eine komische Sache mit dem Sammeln… Es beginnt als Liebe. Aber dann bekommt es bald etwas Raffgieriges und Zersetzendes“, resümiert Zev, ein Freund und Helfer von Griffins Vater. Denn dieser steigert sich immer mehr in seine Obsession hinein.

John Freeman Gills New York wirkt nahezu menschlich und zugleich unbeteiligt. „New York weist dich in deine Schranken… Es schert sich kein bisschen darum, ob du eine Beziehung zu ihm hast oder nicht.“ Der Leser bekommt ein gutes Gefühl für die Geschichte, Entwicklung und Topographie der Stadt, die Namen von Straßen und Gebäuden werden akribisch aufgelistet. Kein Wunder, schließlich ist der Autor auch Journalist und schreibt seit Jahren die Kolumne „Ghosts of New York“ im New Yorker über dem Untergang geweihte Gebäude seiner Heimatstadt. Wer dokumentarische Details mag, wird seinen Spaß mit „Die Fassadendiebe“ haben. Der Roman hat sprachlich ein gewisses Pathos und ist adjektivlastig, die intensive Vater-Sohn-Beziehung macht das aber wett. Einzig die etwas zu sehr in die Handlung gepressten Nebenthemen und -figuren, die Schwester, die zunächst eine Rolle spielt, später kaum noch erwähnt wird, oder die Freundin, die plötzlich anorektisch ist, wirken zu holzschnittartig. Hinzu kommen merkwürdige Neologismen und ein laxer Gebrauch der Umgangssprache in der deutschen Übersetzung; Wörter wie „Schlonz“, „furznobel“ und „plieren“ sind keine Seltenheit. Und auch das langwierige Ende, bei dem Griffin die Stadt verlässt und auf eine Expedition à la Robinson Crusoe geht, hätte gestrafft werden können. Am stärksten ist Freeman Gill, wenn er von der Stadt erzählt, die er so liebt. Und dies ist schlussendlich, was man aus der Lektüre mitnimmt: Hochschauen! Gleich ob in New York oder in einer anderen Stadt – manch einer wird überrascht sein, wie viele Details ihm bisher entgangen sind.

Zum Weiterlesen: Colum McCann – Die große Welt

John Freeman Gill – Die Fassadendiebe
Aus dem Englischen übersetzt von Bettina Abarbanell, Nikolaus Hansen
Piper Verlag, München
September 2017, 457 Seiten

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