Als ein reicher Magnat spurlos verschwindet, wird seiner Familie schnell klar: Es handelt sich um eine Entführung und alle, die seinen Nachnamen tragen, schweben in Gefahr. Also heißt es, Mexiko sofort zu verlassen – nach Texas, New York oder Madrid. Ihren Lebenswegen folgt Antonio Ruiz-Camacho in seiner Kurzgeschichtensammlung „Denn sie sterben jung“.
Gleich zu Beginn des Buches „Denn sie sterben jung“ verortet uns Antonio Ruiz-Camacho ganz konkret: Es ist die reiche Gesellschaft Mexikos, von der seine Storys, die durch den Stammbaum einer Familie locker verknüpft sind, handeln. In „Schon alles Wahnsinn, bevor überhaupt Frühling ist“ unterhalten sich vier 19-jährige Studentinnen, denen zum ersten Mal auffällt, dass sie, so anders als in Paris, New York oder Tokio, in ihrer Heimat Mexiko-Stadt noch nie mit einem Taxi oder der Metro gefahren sind. Sie leben in einem der reichsten Viertel der Stadt; die Welt der Armut und der Kriminalität existiert für sie nur in Schauergeschichten um Entführungen, Überfälle und Vergewaltigungen, die umso wohliger erschreckend klingen, da sie wahr sind: „…und ich habe ein komisches Gefühl, weil die Geschichte dermaßen fürchterlich ist, dass sie einfach nicht stimmen kann, aber ich begreife, dass so was wohl Bestandteil des realen Lebens in der Stadt ist, und das gibt mir das Gefühl, erwachsen zu sein und wild und unabhängig.“ Das denkt Fernanda Arteaga, eine der Studentinnen. Doch ihre naive Weltsicht wird abrupt auf den Kopf gestellt, als ihr Großvater, ein erfolgreicher Unternehmer, entführt wird.
Fernanda spielt im weiteren Verlauf keine Rolle mehr, die Entführung des Patriarchen allerdings schon. Denn sie ist es, die die Kurzgeschichten, die uns von Mexiko unter anderem nach Austin, New York und Madrid führen, miteinander verbindet. Den Familienmitgliedern bleibt nichts anderes übrig, als zu fliehen, und die wenigsten können den Verlust der Heimat akzeptieren. Ihnen allen fällt die Integration schwer. Schlimmere Schicksale aber als dieses obere eine Prozent der mexikanischen Gesellschaft haben die Nebenfiguren, die mitunter nur in zwei, drei Sätzen erwähnt werden, wie zum Beispiel das Paar, das in Hoffnung auf eine bessere Zukunft in die USA floh und das dort eine viel schlimmere Realität erwartet: Ihr Sohn wird vor einem Schwulenclub ins irreversible Koma geprügelt.
Die Kurzgeschichten in „Denn sie sterben jung“ unterscheiden sich stilistisch sehr; es gibt ein atemloses Kapitel mit vielen Semikola, aber ohne Punkt, eins, das ausschließlich aus Dialogen zwischen zwei Geschwistern besteht, andere, die mal in der ersten, mal in der dritten Person geschildert sind. Ein bisschen wirkt dies wie am Reißbrett, als wolle der Autor unbedingt sein literarisches Können beweisen (und vielleicht auch das der englischen Sprache, auf der er zum ersten Mal schreibt); dennoch lesen sich diese Storys interessant und abwechslungsreich.
Stärker zu kritisieren ist da die (relative) Harmlosigkeit der Kurzgeschichten. Es ist 2004, als der Unternehmer Arteaga entführt wird, und 2015, als „Denn sie sterben jung“ im Original veröffentlicht wurde. Man kann entsprechend stark davon ausgehen, dass Ruiz-Camacho den Plot mit voller Absicht ins Jahr 2004 verlegt hat: Im Dezember 2006 wurde der sogenannte Krieg gegen die Drogen vom damaligen Präsidenten Felipe Calderón ausgerufen und somit explodierte erst ab 2007, drei Jahre also nach der Rahmenhandlung des Buchs, die Gewalt in Mexiko, aus deren Abwärtszirkel das Land sich bis heute nicht befreien konnte. Mit dem Fokus auf die höchste Gesellschaftsschicht hat der Autor eine weitere Entscheidung getroffen, zwar eine drohende Gefahr (oder eher deren Auswirkungen) des mexikanischen Alltags, nämlich die der Entführung, abzubilden; der wahren Gewalt sind aber die Ärmeren ausgesetzt. Und so bleibt „Denn sie sterben jung“ ein wenig harmlos. Schade – wer über Mexiko schreibt, darf nicht zimperlich sein. Schließlich ist selbst bei Texten anderer zeitgenössischen Autoren, die tiefer in die Gewalt eindringen, die Realität der Fiktion in Sachen Grausamkeit und Brutalität immer weit voraus.
Ruiz-Camachos Storys sind geeignete Lektüre für diejenigen, die sich in das Spektrum Verbrechen in Mexiko einlesen wollen, ohne sich mit gar zu drastischen Szenen zu belasten. Der Autor schneidet viele interessante Themen an und bietet (vor allem für die Kürze der Geschichten) einen guten Einblick in die Seelenwelt seiner Figuren, die so unterschiedliche Dinge tangiert wie Liebe, Sex, Drogen oder Arbeit. Zudem beleuchtet der Autor eine Gesellschaftsschicht, die, anders als in vielen anderen Ländern, in der mexikanischen Literatur sonst kurz kommt: die der Reichen statt die der Armen. „Denn sie sterben jung“ ist aufgrund der stilistisch unterschiedlichen Kapitel eine kurzweilige Lektüre. Wer sich der mexikanischen Realität aber wirklich literarisch annähern will, der sollte lieber zu einem anderen Buch greifen.
Zum Weiterlesen: Antonio Ortuño – Die Verbrannten
Antonio Ruiz-Camacho – Denn sie sterben jung
Aus dem Englischen von Johann Christoph Maass
C.H. Beck, München
Juli 2018, 205 Seiten
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