Model, Schauspielerin, Sängerin; Ikone, Drogenabhängige. Nico war viele Dinge, dabei immer ein Rätsel und nicht selten (negative) Projektionsfläche, auch dreißig Jahre nach ihrem Tod. Jetzt widmet ihr der Rowohlt Verlag eine neue Biografie – in der erstaunlich viel spekuliert wird.
Vergessen war Nico zwar nie, aber ein wenig in der Versenkung verschwunden. Jetzt wird die Sängerin, wie es scheint, wiederentdeckt: Dreißig Jahre nach ihrem Tod lief nicht nur kürzlich der Film „Nico, 1988“ in den Kinos, im Rowohlt Verlag erschien zudem, verfasst von Tobias Lehmkuhl, eine Biografie, die schlicht nach ihrem Künstlernamen benannt ist: „Nico“.
Wer sich mit dem Leben Nicos beschäftigt, dem wird schnell deutlich: Es gibt wenig stichfeste Informationen, vor allem nicht über ihre Kindheit. Gesichert ist lediglich, dass Christa Pfäffgen 1938 in Köln geboren wird, die letzten Kriegsjahre in Lübbenau bei Berlin verbringt und nach Kriegsende mit ihrer Mutter in die damalige Hauptstadt zieht. Bis sie mit 15 anfängt zu modeln, sind kaum Fotos vorhanden, Dokumente sowieso nicht und andere Überlieferungen schwierig, da nur noch ihr Cousin befragt werden konnte. So muss man sich, zumindest was die ersten Jahre ihres Lebens betrifft, auf Nicos eigene Aussagen verlassen, und die sind sehr widersprüchlich; zum einen spielten ihr offensichtlich die Erinnerungen einen Streich, zum anderen erzählte Nico gerne biografische Märchen – und jagte damit selbst die Los Angeles Time ins Bockshorn, wie Lehmkuhl bewundernd festhält.
In den fünfziger Jahren verschlug es Nico nach Paris und schließlich nach Rom, in den Sechzigern ging es nach New York – Nico war immer in den Städten, in denen es brodelte, und umgab sich mit den spannendsten Menschen dieser Zeiten: Jean Genet, Anita Ekberg und Federico Fellini, Iggy Pop, Jim Morrison, Leonard Cohen und Patti Smith. Und natürlich Andy Warhol und The Velvet Underground, die Band, mit der sie vor einem halben Jahrhundert weltberühmt wurde. Entsprechend gibt es viel Namedropping in dieser Biografie, aber so war eben Nicos Leben: Voller berühmter Bekanntschaften, wenngleich nicht wenige davon nur flüchtig. Tobias Lehmkuhl setzt Nicos Werdegang in gesellschaftlichen, popkulturellen und historischen Kontext und reißt die Biografien von ihren Weggefährten an, um ein möglichst lebhaftes Bild zu kreieren. Stimmig dazu sind auch die zahlreichen Fotos, die das Buch illustrieren.
Wie erwähnt, ist viel von Nicos Leben nicht bekannt oder widersprüchlich. Leider lässt Lehmkuhl diese Leerstellen nicht zu, sondern verliert sich in Spekulationen, oft über ihr Sex- und Liebesleben, was beim Lesen ein unbehagliches Gefühl erzeugt. Wann Nico ihre Jungfräulichkeit verlor, mit wem sie möglicherweise ein S/M-Verhältnis hatte und ob Alain Delon, vermutlich der Vater ihres Sohns, sich nun an Coitus interruptus versuchte oder nicht, ist schließlich irrelevant. Und da all dies nicht einmal gesicherte Fakten sind, sondern nur auf Hörensagen basiert oder gar gänzlich der Fantasie des Autors entspringt, sollte dies wirklich, wirklich keinen Eingang in ein Sachbuch finden. Auch die Bilder, derer sich der Autor bedient, sind mitunter grenzwertig, so zittert beispielsweise die Hand von Nicos an Parkinson erkrankter Mutter „wie Nicos eigene, wenn sie Alain Delon erblickte“. Autsch.
„Nico“ ist deswegen interessant, weil das Sujet dieser Biografie eine schillernde wie zerrissene Persönlichkeit war, ein interessantes Leben führte und es Nico gelang, immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Warum sich Tobias Lehmkuhl aber so in irrelevanten bis zweifelhaften Spekulationen verliert, bleibt ein Rätsel und hinterlässt einen unangenehmen Nachgeschmack.
Zum Weiterlesen: Patti Smith – Just Kids
Tobias Lehmkuhl – Nico. Biografie eines Rätsels
Rowohlt, Reinbek
August 2018, 280 Seiten
#supportyourlocalbookstores