Opium fürs Volk: Ein Familienvater erwürgt 16 Frauen und wird dafür von Teilen der Gesellschaft gefeiert – weil es sich um Prostituierte handelt. Der iranische Karikaturist Mana Neyestani begibt sich in seiner Graphic Novel „Die Spinne von Maschhad“ in eine der religiösesten Städte der Welt.

Es sind vor allem die Hände, die sie faszinieren, Hände, auf die sie immer wieder blicken muss: Die Journalistin Roya Karimi Mjad interviewt den Maurer Said Hanai, einen einfachen, sanft wirkenden Familienvater. Doch Hanai hat 16 Frauen erwürgt mit ebendiesen Händen, die der iranische Zeichner Mana Neyestani in seiner Graphic Novel „Die Spinne von Maschhad“ mehrfach prominent in Szene setzt. Reue zeigt der Mann keine, im Gegenteil: „Hühner oder Schafe habe ich nie geschlachtet. Dafür habe ich zu viel Mitgefühl mit Tieren. Für mich sind diese Frauen weniger wert als Tiere“, erklärt Hanai der entsetzten Journalistin während des Interviews.
Bereits auf den ersten Seiten der Graphic Novel steckt Neyestani das religiöse Setting klar ab. Maschhad, zweigrößte Stadt des Irans, wirkt zunächst ruhig, wie ausgestorben, bis einem Film ähnlich reingezoomt wird: Im Zentrum befindet sich der Schrein von Imam Reza, einem der wichtigsten Heiligen der Schiiten, und um diesen Schrein drängen sich Hunderte von Gläubigen (Männer und Frauen selbstverständlich getrennt), die verzweifelt um mehr Reichtum oder Gesundheit für ihre Liebsten bitten. Said Hanai betet ebenfalls zu Imam Reza. Er jedoch wünscht sich nur eins: dass die Unzucht in seiner Stadt endlich ausgerottet wird.
Unzucht, das ist das Stichwort. Maschhad ist zwar eine hochreligiöse Stadt und eine der heiligen Stätten des schiitischen Islams, liegt zugleich aber in unmittelbarer Nähe zur afghanischen Grenze – Opium dringt ungehindert ins Land und auch die Prostitution floriert. Da Politik wie Religion dieser „Unzucht“ gegenüber machtlos sind, nimmt Said Hanai das Recht in seine eigenen Hände und lockt jedes Mal, wenn seine Frau außer Haus ist, eine der Sexarbeiterin zu sich, um sie im heimischen Wohnzimmer zu erwürgen – die „Spinne“, wie er von der Presse getauft wird, ist geboren. Als er einen Fehler macht und geschnappt wird, bekommt die Familie von allen Seiten viel Zuspruch für seine Taten, schließlich hat sich Hanai als tapfer erwiesen und dazu beigetragen, die Stadt zu „reinigen“.
Mana Neyestani, von dem die Edition Moderne 2013 bereits die Graphic Novel „Ein iranischer Albtraum“ veröffentlichte (wegen der der in Teheran geborene Neyestani gezwungen war, ins Exil zu gehen), beruft sich auf eine wahre Begebenheit: Die Inspiration zu „Die Spinne von Maschhad“ kam ihm, als er „And Along Came a Spider“ sah, eine Dokumentation über diese Mordserie von Maziar Bahari, der wie Neyestani für die Exil-Website IranWire schreibt. In Schwarzweiß-Zeichnungen gehalten, die mit ihrer Noir-Anmutung die düstere Atmosphäre der Geschichte vertiefen, beschreibt Neyestani neben der Hanais die Perspektiven seiner Mitbürger wie die eines Richters, seiner Familie und die einer Prostituierten. Und entlarvt dadurch alle Facetten einer scheinheiligen Gesellschaft, in der ein Riss in der Wand nicht nur im metaphorischen, auch im wörtlichen Sinne lieber mit einem Bild verdeckt wird, anstatt ihn zu kitten.
Erschreckende Figuren sind dabei nicht nur Hanai selbst, sondern auch seine Frau, die die Morde gutheißt und sich nicht daran stört, dass diese in ihrem eigenen Wohnzimmer geschahen, und vor allem der kleine Sohn, der genüsslich die Mordsituation für die Kamera nachstellt und dann ein breites Grinsen aufsetzt. Einen dramatischen Kontrast dazu bietet die Sicht eines kleinen Mädchens, die in bunten, kindlichen Kritzeleien das Leben ihrer Mutter, eine von Hanais Opfern, nacherzählt.
Von diesem arg plakativen Einschub abgesehen ist „Die Spinne von Maschhad“ eine rundum gelungene Graphic Novel, die in die Psyche des Täters eindringt und durch ihn und die Reaktionen der Gesellschaft von Maschhad viel über die Bigotterie und Abgründe des Islams erzählt, die aus einem einfachen Mann in seinem religiösen Wahn einen Serienmörder ohne Reue machte.
Dieses Rezension wurde bereits in der taz veröffentlicht.
Mana Neyestani – Die Spinne von Maschhad
Aus dem Französischen von Christopher Schuler
Edition Moderne, Berlin
Juni 2018, 164 Seiten