„BDSM ist die Entscheidung für einen Lebensstil.“ Interview mit Leona Stahlmann über „Der Defekt“

© Simone Hawlisch

In der Literatur wird – außerhalb der Unterhaltungssparte – das Thema BDSM so gut wie nie verhandelt. Leona Stahlmann ändert das nun: In ihrem Debüt „Der Defekt“ beschreibt sie die Beziehung von der 16-jährigen Mina zu Vetko, der ihr die Verbindung von Lust mit Schmerz lehrt.

Du hast im Missy Magazine und auf Spiegel Online Artikel über BDSM verfasst, jetzt ist das Thema deines Debütromans. Warum ist dir wichtig, die Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren?

Die westliche Kultur gilt als freiheitlich – dabei gibt es sehr viele Normen, wenn es darum geht, wie man sich liebt. Die Pluralität, die wir Menschen aus den Großstadtblasen annehmen, existiert nicht. Es wird, sobald wir von verschiedenen Arten der Liebe sprechen, immer noch in den Kategorien Standard und Abweichung gedacht. Ich will dieses Narrativ neu erzählen und zeigen, dass Zärtlichkeit anders aussehen kann als in Filmen, Popmusik und Literatur, wo es immer sanfte Gesten sind, die Liebe ausdrücken.

Stichwort Literatur: Warum wird BDSM in der Belletristik so gut wie nie verhandelt, höchstens in der Unterhaltungsliteratur?

Diese Frage habe ich mir auch gestellt. Ich kann nur vermuten, dass das Thema zu nischig ist. BDSM wird ausschließlich erotisch erzählt, siehe Shades of Grey. In den Siebzigern gab es Das Bild von Jean de Berg, was einer der größten Erfolge von SM-Literatur war. Aber auch hier handelt es sich um einen erotischen Roman. Erotik ist jedoch nur ein Teilaspekt von BDSM, es gibt auch den Alltag, die Liebe, und das ist nicht primär sexuell. Und es wird immer nur davon erzählt, BDSM zu betreiben aber nicht, wie es ist, mit dieser sexuellen Orientierung aufzuwachsen. Diesen Mangel versuche ich zu beheben.

In Der Defekt finden sich viele sinnliche Beschreibungen der Umgebung, von Farben, Gerüchen und Natur – warum hast du dich dazu entschieden, die Handlung im Schwarzwald anzusiedeln?

Das hatte verschiedene Gründe. Der Ursprung war eine kurze Geschichte, die ich vor fünf Jahren geschrieben habe, über einen Mann – Vetko – der sich weigert, sein Dorf zu verlassen. Als die Sexualität in den Text kam, wurde auch die Natur wichtiger. Sie symbolisiert Minas innere Bedrückung, die sie nach außen trägt. Die Natur ist das Triebhafte und als Atmosphäre wichtig, ein undurchdringlicher Wald, der immer dichter wird. Alles zieht sich zu wie eine Schlinge.

Wie kam die Sexualität in diese Geschichte von einem Mann, der nicht geht?

Ich wollte Vetko aus der Perspektive einer Figur, die mit ihm im Dorf lebt, erzählen. Vetko braucht einen Gegenpart. Er ist von allem, was er sagt, so überzeugt, dass es zum Gesetz wird. Ich habe mich gefragt: Was macht das mit einem Gegenüber? Gerade mit einer verunsicherten Frau? Findet sie das nervig oder interessant?

Mina beschreibt den titelgebenden „Defekt“ als „eingebaute Selbstzerstörungsmechanik“. Was genau ist dieser Defekt? Und warum nimmt sie ihn als Defekt wahr?

Es ist natürlich eine provokante Frage, ob es sich um einen „Defekt“ handelt. Bisher ist wissenschaftlich kaum erforscht, ob diese Abweichung von einer „sexuellen Norm“, so sie denn existiert, bereits angelegt sein kann, wenn man auf die Welt kommt. Oder ist sie etwas, das man im Laufe der Jahre aufschnappt? Eine Mischung aus biologischen Determinanten und Sozialisation? Und auch die Frage, ob man das rückgängig machen, also den Defekt aufheben kann, schwingt dabei mit.

Beide Protagonist:innen sind sehr jung. Warum hast du dich dazu entschieden, Minas „Erweckungserlebnis“ im Alter von 16 Jahren stattfinden zu lassen?

Weil es darüber keine Literatur gibt. Bei BDSM ist ganz klassisch, sich spät damit zu beschäftigen. Geschichten von Menschen um die 30, die fesseln für sich entdecken, gibt es viele. Ist man jung, hat man genug damit zu tun, sich ganz grundlegend mit Sexualität auseinanderzusetzen, mit den Basis: Wie geht das überhaupt? Und wenn in dieser extrem verletzlichen Phase, noch halb mit der Unschuld eines Kindes so überfordernde Spezialwünsche dazukommen, ist das der Worst Case. Homosexuelle haben zumindest, wenn schon nicht im eigenen Bekanntenkreis, solche Vorbilder wie Starfiguren, seien es Musiker:innen oder Schauspieler:innen, eine BDSM-Orientierung ist oft nicht bekannt, wird öffentlich nicht zur Schau getragen. Inzwischen existieren wie mit dem SMJG zentrale Stellen und Vereine, die sich an Jugendliche richten, die ihre Wünsche und Fantasien nicht einordnen können. In meiner Jugend in einer mittelhessischen Kleinstadt gab es das nicht. Darüber sprechen ging nicht, weil kein Diskurs existierte. Einsamer kann man sich nicht fühlen, unverstanden und abartig. Deswegen ist die Isolation, die man empfindet, so groß.

Zu Beginn im Roman ist recht ambivalent, wie einvernehmlich die sexuelle Beziehung von Mina und Vetko wirklich ist, später heißt es, dass sich Mina nach dem Sex tagelang elend fühlt. Was genau hält sie an Vetko?

Man muss das differenzieren. Sich nach dem Sex schlecht zu fühlen ist spezifisch für diese Sexualität, weil es einen Abfall der Hormone gibt. Empfindet man Schmerz, schüttet der Körper Adrenalin und Glückshormone aus. Fallen diese Stressoren weg, sinkt der Hormonpegel, ganz ähnlich wie von Drogen runterzukommen. Wenn man wie Mina aber nicht weiß, dass das eine hormonelle Erscheinung ist, macht das natürlich Angst. Sie zweifelt, sie hinterfragt diese Grenzüberschreitung.

An einer Stelle beschreibt Mina im Gespräch mit ihrer besten Freundin ihr Verlangen als „du willst genau da hin, wo dein Wollen aufhört“.

Es ist bei BDSM schwer zu sagen, ob man Dinge will oder nicht – oder ob die Lust eben gerade dadurch kommt, dass man etwas nicht will. Submissive erhalten ihren Lustgewinn durch eine Zwangssituation, durch etwas, das sie nicht wollen, aber müssen. Das ist extrem komplex. Als ich jugendlich war, hat mich oft die Frage gequält, wie ich etwas gut finden kann, das ich nicht will. Ich habe Angst vor Schmerzen, aber im sexuellen Kontakt schätze ich es, Grenzen zu überwinden, mit mir zu kämpfen. Den Mechanismus habe ich nie ganz verstanden, und diesen Urkonflikt trage ich mit mir aus.

Vetko wird als wenig attraktiv geschildert. Ist er dein Gegenentwurf zu Christian Grey?

Nein, gar nicht, aber das ist eine schöne Idee. (lacht) Aussehen spielt bei BDSM-Orientierungen oft eine untergeordnete Rolle, Alter übrigens auch. Für BDSM-Sexualität ist spezifisch, dass sie mit Attraktivitätsmerkmalen handelt, die man körperlich nicht festhalten kann, sondern psychologisch, intellektuell oder spirituell sind. Autorität und Submission sind da zwei Schlagworte. Man muss einen Seismografen für diese Chiffren haben.

Vetko dominiert Mina nicht nur sexuell, sondern bestimmt mehr und mehr über ihren Alltag. Er sagt auch Sachen wie: „Eine Narbe von mir auf dir, und du wirst noch in zehn Jahren mit mir schlafen.“ Wie sehr ist sein Begehren wirklich von Lust geprägt und wie sehr davon, dauerhaft Macht über jemanden auszuüben?

Das ist eine sehr wichtige Beobachtung. Es geht in dem Roman nicht primär um Sexualität, das ist für mich weder als Autorin noch persönlich der spannende Aspekt. BDSM strahlt auf alle Bereiche aus. Es geht nicht nur um Peitsche und Fesseln, sondern hat viel mit Psychologie zu tun, mit Dingen, die man nicht zuerst mit Sexualität in Verbindung bringen würde. Das ist der interessante Teil: BDSM ist die Entscheidung für einen Lebensstil und hat dadurch auch eine stark asexuelle Komponente.

Schmerz ist, anders als Liebe, ein sehr ordentliches Gefühl“, heißt es im Roman. Was genau bedeutet das?

Wenn du Schmerz empfindest, bist du sowohl geistig als auch körperlich fixiert auf den Punkt, an dem dir diese Schmerzen zugefügt werden. Du bist festgenagelt in Zeit und Raum. Für Leute, die viel nachdenken, ist das eine einzigartige Erfahrung, weil man sich nur darauf konzentriert und an nichts anderes denkt. Schmerz verkleinert die Möglichkeitsräume und zwingt dich dazu, in eine einzige Form zu fallen. Deswegen ist er sehr ordentlich.

Die Brennnessel ist ein wiederkehrendes Motiv in deinem Buch, sowohl für Mina und Vetko als auch für die Bewohner:innen des Dorfes; sie ist zudem auf dem Cover abgebildet. An einer Stelle heißt es über Mina: „Ich nähe mir Hemden aus Nesseln, denkt sie bitter, ich schlafe darin.“ Was hat es mit dem Bild der Brennnessel auf sich?

Einerseits habe ich die Pflanzenmetaphorik im Buch deutlich hervorgehoben, andererseits werden Brennnesseln bei BDSM in der Tat verwendet. Außerdem gibt es dieses Kinderspiel, bei der zwei Hautschichten am Arm verdreht werden. Eine Szene zeigt, dass Mina das als Kind mochte. Dadurch ist das Motiv mehrfach aufgeladen.

Zurück zum Schwarzwald: Dein Roman dreht sich auch um das Gefühl von Heimat oder dem Fehlen dieser, um Entwurzelung. Außer Vetko scheinen alle fliehen zu wollen, sei es durch Wegzug, durch Suizid oder als eine Art innere Flucht. Auch Mina merkt: „Zurückkommen, das geht nicht einfach so.“ Was bedeutet Heimat für dich?

Wir brauchen, wenn wir unsere Heimat nach der Schule verlassen haben, lange, bis wir uns zurückorientieren und fragen, woher wir eigentlich kommen. Erst spät wird uns bewusst, wie sehr uns unsere Umgebung geprägt hat. Ich kenne einige, die in einer Großstadt wohnen und sich nach der Kleinstadt zurücksehnen. Das Dorfleben wird romantisiert: Da gab es Kühe, Bäume, Ruhe, man kannte alle, jede:r hatte Platz … Und dann kehrt man an einen Ort zurück, der nicht mehr existiert, weil 15, 20 Jahre dazwischenliegen oder im Fall von Mina auch nur drei. Man ändert sich in dieser Zeit, und auch der Ort ändern sich. Die Orte, an die wir uns zurücksehnen, gibt es nur in der Erinnerung und werden durch einen Nostalgiefilter verzerrt. Der Roman versucht zu sagen, dass Heimat nicht ortsgebunden beziehungsweise dass dieser Ort der eigene Körper ist, in dem wir uns zu Hause fühlen müssen. Eine Heimat in uns selbst finden wir auch durch eine gesunde Beziehung zu unserer Sexualität


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