Auf den Spuren von „Ein Junge wie Kees“ in Amsterdam

Ihr erinnert euch vielleicht noch daran, dass ich vor einigen Monaten in Amsterdam war – nun, dies hatte einen konkreten Grund: Zusammen mit mehreren Journalist*innen wurde ich von Letterenfonds eingeladen, um den niederländischen Klassiker „Ein Junge wie Kees“ von Theo Thijssen kennenzulernen, der vergangenes Jahr im Wallstein Verlag erstmals vollständig auf Deutsch erschienen ist. Noch nie habe ich erlebt, dass ein einziges Buch so viele Spuren in einer Stadt hinterlassen hat.

Letterenfonds – Niederländische Stiftung für Literatur

Den Anfang nimmt unsere Tour bei Letterenfonds, der Niederländischen Stiftung für Literatur. Letterenfonds ist in einem beeindrucken Gebäude unterkommen, das übrigens einst eine Turnhalle war. Die Stiftung, die es seit 2010 gibt, hat sich die Promotion niederländischer Literatur im Ausland verschrieben, was zu einem großen Teil die Förderung von Übersetzungen bedeutet. Im Jahr 2017 wurden 82 Übersetzungen ins Deutsche unterstützt (insgesamt 490).

Dann geht es um „Ein Junge wie Kees“: Allein 2019, so wird erzählt, gab es in den Niederlanden zwei Romane, die sich ganz konkret auf „Kees“ bezogen haben. Die kulturelle Bedeutung dieses Romans ist immer noch immens. Und das, obwohl er bereits 1923 erstmals veröffentlicht wurde (davor war er ab 1908 in vielen Kurzgeschichten in Zeitungen erschienen). Im Letterenfonds wird im Anschluss eine kleine Ausstellung eröffnet, die diverse Übersetzungen zeigt, darunter auch die erste von „Kees de Jongen“ ins Deutsche. 1935 wurde der Roman unter dem Titel „Kees der Junge“ in der Büchergilde publiziert, damals aber um die Hälfte gekürzt und auf die Liebesgeschichte von Kees und Rosa reduziert.

Wie übersetzt man einen hundert Jahre alten Roman?

Ein kleines Highlight ist der Einblick in die Übersetzerwerkstatt von Rolf Erdorf. Erdorf verrät, dass er bis dato nur Kinderbücher und Lyrik übertragen hatte und es mehr einem Zufall geschuldet war, dass er zum Übersetzer von „Kees de Jongen“ wurde. Eine Ehre für ihn: „Kees will etwas Besonderes sein in einem konformistischem Land“, fasst er den Inhalt zusammen, „und wird im Verlauf des Romans vom Träumendem zum Handelnden“. Trotzdem handele es sich nicht um Sozialromantik. „Kees“ sei vielmehr präzise geschildert und frei von Klischees, „die Armut ist nicht einfach Armut. Thijssen beschreibt die Fähigkeit, sich selbst zu helfen.“

Bei aller Begeisterung für „Kees“ stand Rolf Erdorf beim Übersetzen vor einer großen Herausforderung: Wie soll man im Jahr 2019 den Ton eines Romans finden, der 1923 erstmals veröffentlicht wurde und um 1890 spielt? „Das Original weiß schließlich nichts von seiner Zielsprache“, hält er fest. Genau hier beginnt der tricky Teil des Übersetzens. „Einen 100 Jahre alten Text kann man nicht wie einen modernen übersetzen, aber auch nicht so, als wäre die Übersetzung 100 Jahre alt.“ Er kam auf eine einfache wie geniale Lösung: verschiedene Marker im Text setzen. „Nulpe“, rufen alle, die den Roman bereits gelesen haben. Genau, bestätigt Erdorf, Wörter wie Nulpe oder Sapperlot, „ich habe auch mehr Konjunktive benutzt und Ansprachen wie ‚Meener‘“. „Meneer“, in etwa „mein Herr“, mutet im Deutschen förmlicher und altertümlicher an als auf Niederländisch. Eine Verschiebung, die perfekt passt.

Kees und Theo Thijssen in Amsterdam

Beim Spaziergang durch Amsterdam sehen wir mehrere Orte, die für Kees beziehungsweise seinen Autor Theo Thijssen relevant waren. Wie etwa die Kirche Westerkerk, deren Glockengeläut auch Anne Frank in ihren Tagebüchern beschreibt – das Anne-Frank-Haus ist nur drei Minuten zu Fuß vom Theo-Thijssen-Museum entfernt, der Straße also, in der Kees im Roman aufwächst.

Nach Kees und seiner Schulfreundin Rosa sind in Amsterdam zwei Brücken benannt – ungewöhnlich: Die meisten der 1500 bis 2000 Brücken der Stadt sind nummeriert und tragen keine Namen. Was wir auf unserer Tour auch erfahren, sind ein paar biografische Hintergründe zu Theo Thijssen. Zu dessen Lebzeiten gab es große soziale Spannungen und Trennungen wie etwa Armenschulen. Eine Tatsache, die den Sozialdemokraten und Lehrer Thijssen sehr empörte, der sich später als Stadtrat und im niederländischen Parlament für bessere Bildung engagierte.

Der Schwimmbadschritt

Erst 1995, also gut 50 Jahre nach seinem Tod, wurde im Geburtshaus von Theo Thijssen im Viertel Jordaan ein Museum – unter anderem von Thijssens Enkelin – gegründet. In „Ein Junge wie Kees“ dient dieses Haus als Vorlage für den Wohnort von Kees‘ Familie. Im Museum selbst merkt man, wie beengt die Menschen in dem heute zwar hippen, damals aber ärmlichen Arbeiterviertel Jordaan lebten. Zu Thijssens Zeiten wohnten in der wenigen Quadratmeter großen Wohnung 22 Personen.

Der letzte Programmpunkt unserer Kees-Tour ist zugleich auch der lustigste: Kees erfindet im Roman den sogenannten Schwimmbadschritt, seine Form der Fortbewegung, bei der man durch das kräftige Schwenken der Arme schneller vorankommt (laut Kees). Der „Zwembadpas“ ist nach wie vor in den Niederlanden ein gängiger Begriff. 2001 gab es sogar eine Schwimmbadschritt-Meisterschaft. Das soll heute wiederholt werden: Einige Teenager führen halb freiwillig, halb gezwungen, so scheint es, den Schwimmbadschritt vor, sogar die Presse ist für dieses Event anwesend. Danach sind die Teilnehmer*innen der Tour gefragt. Was soll ich sagen? Ich hab‘ natürlich mitgemacht! Neben einem Beweisvideo erscheint am nächsten Tag in Het Parool ein doppelseitiger Artikel, in dem steht: „Die Deutschen applaudierten laut.“ Fürwahr.

Disclaimer: Diese Orte wurden im Rahmen einer von Letterenfonds organisierten und bezahlten Pressereise besucht. Das hat keinen Einfluss auf meine Berichterstattung.

Wie bestellt ein Regenbogen für uns: Gerrit Bartels (Tagesspiegel), Louisa Kröning (Wallstein Verlag), Reintje Gianotten (Letterenfonds), ich, Tomasz Kurianowicz (Welt), Katharina Borchardt (SWR); nicht im Bild: Bettina Batlschev (Deutschlandfunk) und Anna Vollmer (FAZ)

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