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no. 28: medien/slums -> indonesischer dangdut
 

Indonesischer Dangdut

Musik der Slums oder Musik der Nation?

von Bettina David

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* literatur
* druckbares
* diskussion

Seine außerordentliche Popularität in den unteren Schichten ließ den indonesischen Popmusikstil Dangdut zum ideologischen Objekt medial vermittelter nationaler Vereinnahmungsversuche werden. Das konnte jedoch nichts daran ändern, daß Dangdut weiterhin im indonesischen Imaginären als Metapher für die verachtet-bedrohliche Welt der ländlichen Armen und urbanen Slumbewohner steht. Neue Medienformate wie Video-CDs (VCD) tragen deren "Ästhetik des Exzesses" nun auch in die Wohnzimmer der Reichen.

 

Für postkoloniale Nationalstaaten der sogenannten 'Dritten Welt' wie Indonesien ist die Frage nach Ort und Bedeutung des Slums und seiner Repräsentation in medialen Identitätsdiskursen besonders drängend, konkret bedrängend: Wie diese unleugbare, unübersehbar sich um und in den lokalen Metropolen ausbreitende Präsenz all dessen, was man im global orientierten Selbstverständnis der Mittel- und Oberschichten hinter sich gelassen zu haben meinte, in das nationale Narrativ von Fortschritt, Modernisierung und Konsumorientierung integrieren? Eine unlösbare Ambivalenz prägt die Beziehung zwischen Slum und nationalem Fortschrittsdiskurs: Der Slum ist das, was es nicht geben sollte, unerwünschter Teil des Eigenen, den man überwunden glaubte, von dem man sich durch Aneignung eines 'modernen' Lifestyles sicher abgegrenzt zu haben dachte. Peinliche, unauslöschbare, einen immer wieder einholende Erinnerung an die eigene Herkunft, an die zurückgelassenen, verleugneten Geschwister. Der Slum als Inbegriff dessen, was die französische Psychoanalytikerin und Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva in Powers of Horror als 'Abjekt' bezeichnet hat: Untrennbarer Teil des Eigenen, obwohl den Mittel- und Oberschichten kaum etwas so abstoßend erscheint wie die Welt der urbanen Armenviertel, die oft direkt hinter ihren Villen, Luxusappartements und den neuen Reihenhaussiedlungen beginnt.

In Indonesien zieht sich diese Ambivalenz durch die Sprache: als kampung wird sowohl ein ländliches Dorf, ein städtisches Nachbarschaftsviertel als auch ein urbaner Slum bezeichnet. Das daraus gebildete Adjektiv kampungan hingegen macht deutlich, welche Vorstellungen sowohl mit dem Dorf als auch dem Slum verbunden werden: Es steht für Verhaltensweisen und die Mentalität von Menschen, die -- ihrer sozialen Herkunft aus dem Dorf oder Slum entsprechend -- hinterwäldlerisch, lächerlich-beschämend primitiv und ungebildet, peinlich exzessiv und geschmacklos erscheinen im Versuch, sich Attribute eines 'modernen' Lebenstils und Habitus anzueignen. Kampungan ist all das, was nicht dem urban-modernen Selbstbild der global orientierten Mittel- und Oberschichten Indonesiens entspricht und auch nicht mit der nationalen Fiktion von idealisierten und folkloristisch reduzierten 'traditionellen' Kulturen vereinbar scheint -- ein unheimliches Drittes. Doch auch die, die sich ihre Identität gerade aus ihrem demonstrativ inszenierten Nicht-kampungan-Sein sichern, sprich die urbanen Mittel- und Oberschichten, werden vom kampung immer wieder eingeholt, können sich ihm nicht entziehen: pulang kampung, "ins kampung zurückkehren", bezeichnet die Rückkehr in die Heimat, zu den Eltern, an den Ort, wo man herkommt. Viele in den Städten zu Geld und Ansehen gekommene Indonesier sind durch ein weitverzweigtes Netz von Familienbindungen weiterhin an ihre zumeist ländlichen Herkunftsregionen gebunden. Zu Feiertagen und Familienfesten kehrt man ins kampung zurück -- das Verwurzeltsein in einer zurückgelassenen Heimat verbindet Arme wie Reiche gleichermaßen. Und der Slum ist, ob man es will oder nicht, so immer auch assoziativ mit Vorstellungen des eigenen Ursprungs verbunden.

In Indonesien ist es Dangdutmusik, die im öffentlichen Diskurs zum symbolischen Austragungsort dieser identitätskonstituierenden Bewegungen wurde. Die Welt der urbanen kampung ist untrennbar verbunden mit Dangdutmusik, einem auf malaiischen Einflüssen, indischen Bollywoodsongs und westlicher Pop-und Rockmusik basierenden hybriden indonesischen Musikstil. Er ist in Indonesien allgegenwärtig: in öffentlichen Verkehrsmitteln, an Imbißständen am Straßenrand, aus Läden und Geschäften, in Nachtclubs und Karaoke-Bars, auf kampung-Freilichtbühnen anläßlich von Hochzeitsfeiern, aus den Radios der Nachbarschaft und auf sämtlichen TV-Kanälen erklingt Dangdut, der Soundtrack Indonesiens. Dangdut stellt auch das bevorzugte Liedgut für spontanes gemeinsames Singen im kampung-Milieu, beliebter Zeitvertreib für die, die sich keine anderen Vergnügungen leisten können -- eine Gitarre ist immer griffbereit, auf den Tisch schlagende Hände, an Gläser klopfende Löffel ersetzen die Schlaginstrumente, und die älteren und neueren Dangduthits können sowieso alle auswendig, sie sind Teil des kollektiven Gedächtnisses.

 

Musik der verarmten Massen?

Trotz dieser unüberhörbaren auralen Präsenz ist Dangdut geichwohl Objekt einer nicht weichen wollenden Irritation. Fragt man als Westler nach Dangdut oder bekundet gar sein Interesse für diese Musik, ist die Reaktion meist ungläubiges, verunsichertes Kichern: Nichts scheint unvereinbarer als die Welt, für die der Westler steht, und Dangdut. Denn Dangdut, so wird wieder und wieder erklärt, sei die Musik der Unterschicht, der Armen, der ungebildeten Leute aus dem kampung, eine Musik so anspruchs- und geschmacklos, ja geradezu primitiv, vulgär noch dazu, kurz: kampungan, daß man als einigermaßen 'zivilisierter', gebildeter Indonesier -- und somit erst recht als Westler! -- damit doch unmöglich etwas anfangen könne. Aus Sicht der urbanen Mittel- und Oberschichten ist Dangdut also zunächst einmal die Musik der anderen da draußen; Dangdut als Signifikant für all das, was diese anderen, die diffus bedrohliche, unüberschaubare und unkontrollierbare Masse der Armen, an Phantasmen und Ängsten auslösen in denen, deren Identität einer Abgrenzung gegenüber ebendiesen anderen bedarf.

In der öffentlichen Wahrnehmung, in medialen Repräsentationen und Diskursen wird die assoziative Assimilation von Dangdut mit der gesichtslosen Masse der Unterschichten seit den 1970er Jahren, als sich Dangdut erstmals als eigenes Genre herauszubilden begann, stets von neuem narrativ konstituiert: Entstanden in den multiethnischen Arbeiter- und Armenvierteln der großen Metropolen Jakarta, Surabaya und Medan, gilt Dangdut seit seinen Anfängen als Musik der einfachen Leute, ungebildeten Arbeiter, Tagelöhner und entwurzelten Stadtmigranten. Dangduts musikalische Hybridität und die in der Nationalsprache Indonesisch gesungenen Liedtexte verweisen dabei auf eine neue Verortung von Zugehörigkeit auf nationaler und transnationaler Ebene -- Ausdruck einer unmißverständlich modernen Ausrichtung, die regionale musikalische Traditionen und kulturelle Praktiken hinter sich läßt zugunsten eines neuen, gemeinsam geteilten nationalen Idioms. Während sich die aufstrebenden Mittel- und Oberschichten mit den musikalisch rein westlichen, süßlich-soften Liebesballaden des Pop Indonesia identifizieren, schlägt Dangdut musikalisch und textlich andere, härtere Töne an: Dangdut, benannt nach seinem pulsierenden Rhythmus dang-dang-dut, verführe, so sind sich alle Indonesier einig, unwiderstehlich zu goyang, dem hüftschwingenden Tanzen, das für ihn charakteristisch ist -- Dangdut ist Musik sich der sinnlichen Lust hingebenden Körper. Die watteweiche, träumerische Welt des Pop Indonesia erscheint dagegen als vergleichsweise abstinenter, platonischer Genuß, Elias'sche zivilisatorische Affektkontrolle als Distinktionsmerkmal gegenüber den triebhaften Körpern der Massen.

Auch in den Liedtexten geht es in einfacher, direkter Sprache zur Sache: Da ist die Rede von betrogener Liebe, Ehebruch, Alkoholismus, Polygamie, Unfruchtbarkeit, Spielsucht, Arbeitslosigkeit, Gewalt in der Ehe und immer wieder Armut. All diese Themen sind in der sterilen Welt des lollypopsüßen Pop Indonesia bezeichnenderweise abwesend. Typisch für Dangdut ist neben dem melodramatischen Pathos ohnmächtig-wütender Klagen aber auch immer wieder das Spiel mit lustvoller Vieldeutigkeit und sexuellen Anspielungen -- auch das ein Tabu in Pop Indonesia. So wurde zum Beispiel die TV-Ausstrahlung des Dangdut-Liedes Geröstete Maiskolben (Jagung Bakar) Anfang der 1990er Jahre verboten, der Liedtext ("willst du einen großen langen oder einen kleinen jungen Maiskolben? Der große ist lecker, der kleine aber auch ein Genuß") war der staatlichen Zensur zu "'pornographisch". Auch Dangdut-Superstar (Rhoma Irama -- hier mit seinen beiden Söhnen), dem eine maßgebliche Rolle bei der Entwicklung von Dangdut als eigenständigem Genre und seiner Popularisierung zukommt, war in den 1980er Jahren mehrere Jahre lang von einem TV-Ausstrahlungsverbot betroffen. Rhoma hatte Dangdut zur "Voice of Islam" erkoren und mit seinen simpel-sozialkritischen Liedern, extravaganten Livekonzerten und seinen populären Musikfilmen, in denen er hauptsächlich sich selbst spielte, besonders bei der männlichen Unterschicht einen Nerv getroffen. Dangdut drohte nicht nur zur Stimme des (oppositionellen) Islams zu werden, sondern auch zur Stimme des (einfachen) Volkes -- aus dem nach der Entmachtung Sukarnos (1966), des linkspopulistischen ersten Präsidenten Indonesiens, der sich selbst charismatisch als revolutionäre "Stimme des Volkes" inszeniert hatte, unter dem autoritären Regime General Suhartos eine stimmlose "Masse" geworden war, die der eisernen Führung bedurfte.

Medienberichte schürten die Angst der noch relativ kleinen und überwiegend säkular eingestellten Mittel- und Oberschicht vor dem angeblich anarchistischen, unkontrollierbaren Potential dieser "Masse". Dangdutkonzerte waren berüchtigt für die Wildheit ihrer so gut wie ausnahmslos männlichen Fans, die sich, oft unter Alkohol- und Drogeneinfluß, in Trance tanzten. Konzerte indonesischer Rockgruppen, deren Fans vornehmlich aus der gebildeten, westlich orientierten Oberschichtsjugend stammten, glichen dagegen braven, anständigen Veranstaltungen: Man hörte vergleichsweise still und konzentriert zu. Dangdutfans jedoch waren nicht zu halten in ihrer körperlich-sinnlichen partizipatorischen Identifikation: laut mitsingend, sich der machtvollen, enthemmenden Dynamik hingebend, eine im liminalen Genießen miteinander verschmelzende Masse. Dangduts Ästhetik des Exzesses -- das impotente Pathos so vieler Liedtexte, das durchaus auch als spielerische Karikatur einer übertriebenen Emotionalität inszeniert werden konnte, die direkte, kein Blatt vor den Mund nehmende Sprache, eine durch sexuelle Anspielungen und schwingende Hüften knapp bekleideter Sängerinnen erotisch aufgeladene Atmosphäre, extravagante, schrille Kostüme -- all das war den auf Distinktion bedachten, westlich orientierten Mittel- und Oberschichten nur ein weiterer Beweis für Dangduts 'Primitivität' und 'Geschmacklosigkeit'. Ashish Nandy spricht in The Secret Politics of Our Desires von Bollywood als Slum-Ästhetik, als Metapher für den Slum. Auf ganz ähnliche Weise verweist Dangduts Ästhetik auf alles, was im Imaginären der Mittelschichten für die kampung-Welt steht.

Als bedrohlich und unheimlich erscheinen dabei vor allem die in Dangdut zum Ausdruck kommenden "abjektiven" Formen indonesischer Modernisierungsprozesse, wie Jeremy Wallach es in Modern Noise, Fluid Genres so treffend beschreibt: "Dangdut's obvious deviations from the sound and style of global pop music genres makes it an 'abject' form, neither traditional nor modern [...]. The modern must be defined by what it is not -- this holds true for followers of modernist Islam as for developmentalist technocrats -- but dangdut music does not exclude any possibilities. Instead, it incorporates them all into an unruly and impure hybrid formation that elicits disgust and disavowal from modernists even as it invites them to join the dance."

Dangdut also als Stimme des kampung-Volkes, originärer Diskurs des Slums, mithin authentische Praxis der Marginalisierten, Sprache der bis dahin Stimmlosen? Doch das hieße zu übersehen, daß Dangdut von Anfang an eine kommerzielle Musik war, Teil einer sich rasant entwickelnden nationalen Kulturindustrie im postkolonialen Indonesien, in der es vor allem darum ging, Stars, Hits und somit Profit zu generieren. Die Entstehung indonesischer Pop- und Populärkulturen verdankt ihren Erfolg maßgeblich den seit den 1970er Jahren verfügbaren neuen elektronischen Massenmedien, so den billig zu produzierenden (und leicht raubzukopierenden) Kassetten. Dangduts Popularität wäre ohne die auch in Armenvierteln erschwinglichen Kassettenspieler und Radios nicht möglich gewesen. Rhoma Iramas Dangdut-Filme machten viele seiner Lieder zu Gassenhauern. Gezeigt wurden sie in drittklassigen Unterschichtskinos, in denen auch die in den unteren Klassen so beliebten Bollywoodfilme auf dem Spielplan standen - nicht wenige Dangdutlieder sind indonesische Coverversionen von Hindi-Filmsongs. Die Lieder sollten sich gut verkaufen, sollten den Geschmack der "Massen" treffen und damit kommerziellen Erfolg nach sich ziehen. Liederschreiber und Produzenten (oft selber Dangdutsänger wie Rhoma oder Mansyur S.), die selbst zumeist aus Mittelschichtsfamilien stammten, sprachen in ihren Liedern also aus einer imaginierten kampung-Perspektive heraus.

Von einigen populistisch-sozialkritischen Songs aus der Feder Rhoma Iramas abgesehen sind die meisten Dangdutliedtexte, wenig erstaunlich für Produkte einer kommerziellen Kulturindustrie, entschieden unpolitisch. Ideologiekritische Elemente einer Auseinandersetzung mit den sozio-ökonomischen Strukturen sucht man vergebens. Armut, Exklusions- und Marginalisierungserfahrungen werden zumeist unter Verwendung stereotyper Topoi innerhalb eines narrativen Rahmens von Liebesbeziehungen artikuliert. Armut steht hier einerseits für eine Position der Ohnmacht in der Liebe: Die Armut des Mannes macht ihm eine Verbindung mit der geliebten (reichen) Frau unmöglich, die aus armen Verhältnissen stammende Frau wird von ihrem reichen Ehemann verachtet und wie eine Sklavin gehalten. Andererseits finden wir eine sentimentalisierte Idealisierung der Armut -- "arm, aber glücklich". Sozialer Aufstieg und Reichtum sind im Dangdut-Narrativ zumeist negativ besetzt, sie stehen für ein Vergessen der eigenen Herkunft und ein ausschweifendes, nur den eigenen triebhaften Begierden folgendes Leben jenseits aller moralischer und religiöser Verantwortung.

Die meisten Lieder werden von Frauen gesungen, die aus der Ich-Perspektive mit dem männlichen Du sprechen. So kommt es zu einer doppelten Fremd-Repräsentation des männlichen Unterschichts-Subjekts. Interessanterweise übernimmt das weibliche Ich in den Liedtexten oft eine Art zivilisatorische Funktion. Es ist die Frau, die das männliche Du als Objekt ihres Diskurses anspricht und über sein Versagen klagt: gebrochene Versprechen, Untreue, Lügen, Alkoholismus, Spielsucht, seelische und körperliche Misshandlungen, Arbeitslosigkeit aus Faulheit, Verantwortungslosigkeit der Frau und Familie gegenüber -- kurz, der Mann versagt in seiner symbolischen Rolle, er betrügt nicht nur die geliebte Frau, sondern auch seine ihm zugeordnete Position in der Gesellschaft. Doch die weibliche Perspektive und Kritik an männlichem Fehlverhalten und Versagen sollte nicht als Ansatz eines lokalen 'feministischen' Diskurses mißverstanden werden -- vielmehr ist zu vermuten, daß Dangdut hier als eine Art Container fungiert, der den Ausdruck uneingestandener gesamtgesellschaftlicher Verunsicherungen ermöglicht, projiziert auf die vorgeblich alltäglichen Lebensbedingungen der Unterschichten und damit in sicherer Entfernung vom 'zivilisierten' Selbstbild der Mittel- und Oberschichten gehalten, die sich mit dem offiziellen Diskurs von optimistischem Fortschritt und erfolgreicher Partizipation an der globalen Moderne identifizieren.

Doch Dangdut ist für seine Fans (und das sind im öffentlichen Raum so gut wie ausschließlich Männer, Frauen hören oder schauen Dangdut eher zu Hause im Radio oder Fernsehen) vor allem eine rhythmisch zum Tanz verführende Musik -- die Liedtexte seien eigentlich unwichtig. Ja, so wird immer wieder betont, bei Dangdut könne man seine alltäglichen Probleme vergessen, Dangdut sei das beste Mittel gegen stress. Ein Paradox? Kaum -- der außerordentliche Genuß, den Dangdut trotz (oder gerade wegen?) seiner oft männerkritischen oder fatalistisch-traurigen Liedtexte vermittelt, liegt wohl im identifikatorischen Tanz: sich auf der rhythmisch-körperlichen Ebene mit der Musik identifizierend, entziehen sich die tanzenden männlichen Zuschauer auf lustvolle Weise der sprachlich-symbolischen Signifikation und triumphieren in einer Art semiotischer jouissance über sie.

 

Dangdut als Objekt des medialen Blicks

Sowohl die Liederkomponisten als auch die diese Lieder singenden Stars kommen mehrheitlich aus der Mittelschicht, Dangdut als Gesamtphänomen wurde in den medialen Repräsentationen (so den Printmedien, später auch im Fernsehen) als "authentischer Ausdruck", als "Stimme" des einfachen Volkes und der urbanen Slums mit einer bestimmen sozialen Schicht identifiziert. Welche ideologische Funktion wird Dangdut hier in der Konstruktion hegemonialer indonesischer Selbstrepräsentationen zugewiesen? Andrew Weintraub betont in Dangdut Stories, daß Dangduts Zuhörerschaft als eine einheitliche Kategorie überhaupt erst durch diese mediale Repräsentation von außen Gestalt annahm. Die mit Dangdut identisch gesetzte "Masse", das "einfache Volk" des urbanen Slums, entstand mithin erst als Objekt des medialen Blicks, der untrennbar mit den Interessen und Ängsten der Mittel- und Oberschichten verbunden ist. Weintraub spricht von Dangdut als einer "diskursiven Praktik" der Mittel- und Oberschichten: Die mediale Repräsentation bestimmt, was über "die einfachen Leute", sprich die große Mehrheit der Bevölkerung, gesagt und imaginiert werden kann, welcher Platz ihnen im nationalen Narrativ von wirtschaftlicher Entwicklung und Modernisierung zugeteilt wird.

Dangdut als eine diskursive Obsession der Mittelschichten und Eliten erscheint hier als symbolischer Austragungsort der Aushandlung von Fragen nach sozialer und klassenspezifischer Zugehörigkeit und Identität. Während die einen an Dangdut das Anarchische, Vulgäre, Geschmacklose und Fatalistische beklagten, ihn als "porno" und "weinerlich" kritisierten und darin den Grund für das weiter bestehende Elend der Massen sahen, wurde Dangdut für einige Intellektuelle zum Artikulationsobjekt ihrer Sozialkritik. So schrieb 1979 der islamische Intellektuelle Emha Ainun Nadjib, allem Fortschritts- und Weltläufigkeitsgehabe zum Trotz seien alle Indonesier -- und damit wendete er sich an seine Leser aus den gebildeten Schichten -- in ihrem Innersten doch "sehr dangdut". Und er fragte provozierend: "Wer sind wir, wenn nicht ein Haufen braunhäutiger, westliche Kleidung tragender Menschen mit einer Dangdut-Mentalität?"

Dangduts Beliebtheit in den unteren Schichten stieß in den 1990er Jahren eine neue diskursive Vereinnahmungsbewegung an, die politisch motiviert war. Dangdut, so hieß es nun, sei die "Musik der Nation", eine Musik "aller Indonesier". Erzählte man sich bisher Witze über Leute, die mit ihrem exquisiten Musikgeschmack prahlten und angeblich nur Jazz hörten, dann aber auf frischer Tat dabei ertappt wurden, wie sie im stillen Kämmerlein heimlich ihrer Dangdutliebe freien Lauf ließen, so bekundeten nun hohe Regierungsbeamte und Minister demonstrativ ihre angebliche Begeisterung für Dangdut. Sie zeigten sich publikumswirksam beim Tanzen zu Dangdutliedern und betonten damit ihre Verbundenheit mit dem "Volk". Ob reich oder arm, Dangdut, so wurde verkündet, verbinde alle Indonesier. Dangdut wurde zu einem beliebten, inzwischen nicht mehr wegzudenkenden Spektakel bei Wahlkampfveranstaltungen, mit dem sich möglichst viele Menschen -- die sonst so gefürchteten "Massen" -- anlocken ließen. Zeitgleich machte die Rede von Dangduts angeblichem Potential to go international in den Medien die Runde.

Doch Dangdut, so war man sich auch einig, bedurfte dringend einer "Reinigung" von allem Vulgären, Erotischen und "Geschmacklosen" -- also allem, was an die Welt des kampung, den Slum erinnerte und Dangdut bisher im medialen Narrativ charakterisiert hatte. Ein Erziehungsdiskurs setzte ein, Dangdut sollte endlich "erwachsen" werden, um sein volles Potential als indonesische "Nationalmusik" zu entfalten und damit auch die Chance auf internationale Anerkennung wahrnehmen zu können. Im Zuge dieser "Nationalisierung" Dangduts, wie Weintraub den Prozeß bezeichnet, wurde eine sanftere, 'saubere', an indonesische Popmusik angelehnte Version Dangduts propagiert. Gebetsmühlenhaft wurde in den Medien immer wieder betont, daß Dangdut -- angeblich -- nun auch in der Mittel- und Oberschicht angekommen sei. Fernsehen und Printmedien präsentierten die mehrheitlich weiblichen Sänger als glamouröse Stars und berichteten ausführlichst über ihr Luxusleben und allerlei Klatsch und Skandälchen. Besonders der staatliche TV-Sender TPI (Televisi Pendidikan Indonesia, "Indonesisches Erziehungsfernsehen") zeichnete sich durch seine hohe Quote an Dangdut-Videoclips aus. Gleichwohl war in der Mittel- und Oberschicht bald verächtlich die Rede von TPI als Televisi Pembantu Indonesia, "Fernsehen indonesischer Hausmädchen" -- ein deutlicher Verweis auf die weiterhin ungebrochene, klassenspezifische Assoziierung von Dangdut mit dem vermeintlich simplen, ungebildeten Geschmack der Hausmädchen, sprich der Unterschicht. Aber auch die in den 1990er Jahren neu gegründeten kommerziellen Sender folgten der Dangdut-Mode eifrig und strahlten Dangdut-Quiz-Sendungen, Talkshows, Dangdut-Seifenopern aus und übertrugen Live-Konzerte mit den großen Stars anläßlich des Unabhängigkeitstages, zu Silvester oder zur Feier am Ende des Ramadan.

Doch in den kampung blieb Dangdut weiterhin das, was er bisher gewesen war: unbändig, wild, sinnlich, erotisch aufgeladen, ein Schwelgen in lustvoller Widersprüchlichkeit. Während im Fernsehen die nationalen Megastars die 'soften' Originalversionen der Lieder singen, wird das gleiche Liedgut in dörflichen Regionen und Vorstadt-Slums auf unzähligen kampung-Bühnen zu Feierlichkeiten wie Hochzeiten, Beschneidungen, Einweihungsfeiern und nationalen Feiertagen von Sängerinnen lokaler kampung-Bands gesungen und dabei wieder in die kampung-Kultur inkorporiert: Es sind freie Aufführungen im öffentlichen Raum des kampungs, die allen Menschen offenstehen, gemeinschaftliche Ereignisse, die in dieser sozialen Offenheit und Inklusivität auch einen Gegenpol zu den Feierlichkeiten der Oberschicht bilden, die ihre Hochzeiten zumeist in extra gemieteten Festsälen nur für geladene Gäste ausrichten. Für viele kampung-Bewohner stellen diese öffentlichen Aufführungen die einzige Unterhaltungsmöglichkeit dar, sie ziehen oft mehrere Hundert, zum Teil auch Tausende von Zuschauern aus einem größeren Umkreis an.

Auch die Mittel- und Oberschichten gönnen sich auf Veranstaltungen, bei denen sie unter sich sind, mitunter als kurzes Intermezzo den Spaß, sich den verlockenden Dangdutrhythmen hinzugeben. Dieses kurze, meist nur ein oder zwei Lieder andauernde Ausleben eines "heimlichen Vergnügens", wie Jeremy Wallach es bezeichnet, trägt jedes Mal spürbar zur allgemeinen Erheiterung bei. Es ist jedoch auf unmißverständliche Rahmenbedingungen angewiesen, die ebenso wie die demonstrativ zur Schau gestellte ironische Haltung keinen Zweifel am sicheren Abstand zur sich da draußen bedrohlich auftuenden realen kampung-Welt lassen.

Mit dem Sturz Suhartos 1998 und der darauf folgenden, bis heute andauernden Ära der sogenannten Reformasi setzte eine politische Liberalisierung ein. Zuvor unterdrückte Stimmen wie der politische Islam verschaffen sich nun lautstark und zunehmend dominant im öffentlichen Raum Gehör. Und wieder ist es Dangdut, an dem sich die nationale, medial vermittelte Diskussion um den Rahmen und die Formen des Erlaubten entzündet: Allen Reinigungs- und Erziehungsdiskursen der vorherigen Dekade zum Trotz geht es Anfang des neuen Millenniums auf den kampung-Bühnen erotischer denn je zu. Die neue Technologie der Video-CDs, weitaus billiger als Kassetten und zumeist raubkopiert, führt zu einer vorher ungekannten medialen Sichtbarkeit und Präsenz der kampung-Aufführungen. Die illegalen VCD-Vervielfältigungen privater Mitschnitte dieses erotischen Spektakels, nun oft Dangdut hot genannt, werden von Straßenhändlern für weniger als umgerechnet 50 Cent angeboten.

 

Erotische Exzesse in Zeiten der Islamisierung

Es dauerte nicht lange, bis die institutionellen Medien, immer auf der Suche nach dem sensationell Neuen, auf Inul Daratista aufmerksam wurden, eine auf ostjavanischen kampung-Bühnen auftretende Sängerin. Ihr Markenzeichen war goyang ngebor, ein "bohrender" Hüftschwung, mit dem sie sich frech und unbekümmert in das nationale Bewußtsein bohrte und mit dieser Penetration 2003 einen öffentlichen Skandal auslöste. Einmal auf den Fernsehbildschirmen der Nation und damit im Bewußtseinsradius der Mittel- und Oberschichten angekommen, mußte eine Antwort gefunden werden auf diese unerwartete, geradezu provozierend körperliche Präsenz der kampung-Kultur. Religiöse Führer, etablierte Dangdutsänger -- allen voran Rhoma Irama -- verurteilten Inuls "bohrende Hüften" aufs Schärfste und forderten ein Auftrittverbot: Inuls "obszöne" Auftritte zögen Dangdut in den Dreck, gefährdeten die Moral der Nation, ja führten gar zu Vergewaltigungen. Aktivisten und sozialkritische Intellektuelle hingegen sahen in Inuls Tanz einen kreativen Ausdruck der Selbstbestimmung, Inuls bohrender Popo wurde in diesem Gegendiskurs zum Symbol künstlerischer Freiheit. Die große Mehrheit der Indonesier hingegen sah, zwischen Ergötzen und Ablehnung schwankend, fasziniert-gebannt den penetrierenden Bohrbewegungen von Inuls Körper auf dem Bildschirm zu -- Inul, die bis dahin kein einziges eigenes Album herausgebracht und nur die Hits der großen Stars gesungen hatte, verdankte ihre Popularität allein den illegalen VCD-Raubkopien, von denen mehrere Millionen verkauft worden sein sollen. Und wieder einmal war es Emha Ainun Nadjib, der die Dinge auf den Punkt brachte, indem er bemerkte: "Inuls Hintern ist unser aller Antlitz."

Die kommerziellen Fernsehsender stürzten sich auf Inul, aus der jungen kampung-Sängerin war geradezu über Nacht ein nationaler Superstar geworden. Schnell wurden Lieder für sie geschrieben, damit sie mit einem eigenen Album das für die Musikindustrie so wichtige Geld einspielen konnte. Die offiziellen Videoclips zu diesen Liedern setzen ihre bohrenden Hüften zwar gekonnt in Szene, doch die aufwendigen Studio-Choreographien und ein professionelles Styling ihrer Person machen aus dem vorher so spontan-unbändigen, frech-provozierenden kampung-Mädchen eine Kunstfigur, einen modischen Trend -- kampung-Vulgarität als durchgestylte, die unersättliche Begierde der Massenmedien nach neuen Sensationen bedienende Unterhaltung für die Wohnzimmer der Mittel- und Oberschichten.

Mitte der ersten Dekade des neuen Millenniums, zu einer Zeit also, in der sich das öffentliche Gesicht Indonesiens deutlich sichtbar islamisiert -- der Anteil der sich verschleiernden Frauen steigt ständig, die neuen Mittelschichten werden von einer Frömmigkeitsbegeisterung erfaßt, während in einzelnen Regionen Indonesiens umstrittene Scharia-Verordnungen erlassen werden und 2008 ein umstrittenes Pornographie-Gesetz in Kraft tritt --, da gebärdet sich der kampung-Dangdut so hot wie kaum zuvor in seiner Geschichte. Lokale Sängerinnen versuchen, in Inuls Fußstapfen zu treten und durch immer verwegenere Hüftschwung-Variationen Aufsehen zu erregen. Durch die Massenmedien und Porno-Raubkopien haben westliche Striptease-Bilderwelten längst auch das hinterste, ärmste kampung erreicht, eine Globalisierungsdynamik, die auch lokale Imaginationen des Erotischen formt.

Wie Inul schaffen es einzelne dieser kampung-Sängerinnen vom kampung und auf youtube hochgeladenen VCD-Mitschnitten ihrer Auftritte auf die nationale Ebene offiziell-institutioneller Anerkennung, so zuletzt Mela Barbie. Ihre Auftritte im Fernsehen und bei Konzerten mit etablierten großen Stars sind weiterhin 'sexy', doch es ist ein durch die professionell eingeübte Choreographie gesäubertes 'Sexy-Sein', das in seiner medialen Bildsprache die Mittelschichten mehr an die ihrem Imaginären so vertraute Welt westlicher Popstars erinnert als an die gleich hinter den glitzernden Megamalls beginnenden Slums der eigenen Stadt.

Auf den kampung-Bühnen hingegen inszeniert sich gleichsam die Rückkehr des Verdrängten: Während sich die neuen gläubigen Frauen mittels des idealisierten Kopftuches ihres reinen Bewußtseins versichern, agiert die Unterschicht der Gesellschaft, stellvertretend in der Figur der obszönen Dangdutsängerin, wieder einmal die 'schmutzige' Dimension der unteren Körperbereiche in drastischer Bildlichkeit aus. So manche kampung-Shows lassen die oft kritisierte indonesische Sprachschöpfung pornoaksi -- "pornographisches Verhalten" -- durchaus berechtigt erscheinen. Die Gleichzeitigkeit zwischen dem islamischen Versuch, mittels Kopftuch das Körperlich-Exzessive zu kontrollieren, und dem körperlichen Ausagieren eines exzessiven Genießens auf den kampung-Bühnen, oft direkt vor den Augen von am Bühnenrand sitzenden kleinen Kindern, zeugt von einer Sprachlosigkeit im Zuge der durch Enttraditionalisierung, Urbanisierung und Globalisierung bewirkten Freisetzung des Sexuellen von traditionalen Ausdrucks- und Kommunikationsformen.

Dangdut ist somit nicht nur ein Medium kommerzieller Kulturindustrie und Objekt hegemonialer Vereinnahmungsversuche. In ihm artikuliert sich auf kampung-Ebene immer wieder auch ein unkontrollierbarer, lustvoll-beängstigender Rest, der sich in seiner Mimikry westlicher sexualisierter Popkultur gleichsam auch als Indonesiens verleugnetes, uneheliches Kind der globalisierten Moderne entpuppt. Kampung-Konzerte besuchen die Mittel- und Oberschichten selbstredend nicht, aber via Medien wie VCDs und youtube hält Dangdut ihnen gleichwohl den Spiegel vor und verweist sie auf Prozesse der kulturellen Entwurzelung, die Fragilität der symbolischen Ordnung und die damit einhergehende entfesselte Sexualisierungsdynamik. Auf diese Weise artikuliert Dangdut auch den libidinösen Subtext für die gegenwärtige Islamisierungsbewegung, die die neuen aufstrebenden Mittelschichten ergriffen hat und zu religiösen Distinktions- und Heilungsversuchen drängt. Dangdut als Musik des Slums, seit seinen Anfängen Objekt ideologisierender medialer Repräsentationen, erweist sich somit auch als Symptom indonesischer Globalisierungsprozesse.

 

autoreninfo 
Bettina David, M.A.: Studium der Südostasienkunde, Indonesistik, Thaiistik und Soziologie in Passau, Leiden/NL und Hamburg. Freie Autorin und Übersetzerin (Indonesisch, Malaiisch), redaktionelle Mitarbeit bei zenith -- Zeitschrift für den Orient, Doktorandin an der Universität Hamburg.
Homepage: http://www.bettina-david.de

 

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